Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sich ganz darin, einen lockersitzenden Knopf am Ärmel ihres Kleides zu drehen, so lange, bis er reißt. Während Paul müde den Kopf schüttelt und auf die Tischplatte starrt, blickt Muriel auf und beobachtet ihn verstohlen über den Rand ihrer Tasse hinweg. Etwas an Paul hat sich verändert, den Unterschied aber kann sie nicht festmachen. Noch immer ist sein Haar spärlich, sind seine Augen blau und seine Züge ihr vertraut. Noch immer ist er so groß, dass der Raum mit den Bänken und dem Tisch darin allein durch seine Gegenwart zur Puppenstube wird. Noch immer hat er zwei Arme, zwei Beine und Ohren, und doch scheint etwas zu fehlen – kein einzelnes Körperteil, sondern vielmehr eine ganze Schicht, eine Lage seiner selbst, die abgetragen wurde. Wenn Muriel ihn nur lang genug anschaut, meint sie, durch ihn hindurch die hölzerne Rücklehne der Bank sehen zu können. Peter, versteht Muriel mit einem Mal, wird nicht zurückkehren. Und jemand trägt die Schuld an seinem Verschwinden, vielleicht der Taucher, vielleicht Jonathan, vielleicht sie selbst. Während Klara Paul versichert, dass er nicht länger hinaus aufs Meer fahren müsse, dass sie sich selbst mit ihrem Gemüsegarten behelfen könnten, lässt Muriel den losen Knopf durch ihre Finger wandern.
Paul starrt auf ihren Ärmel, auf die Fäden, die keinen Knopf mehr halten. »Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Meer«, sagt er.
Während Klara Paul Fragen stellt und Paul die meisten von ihnen mit einem Kopfschütteln oder Achselzucken beantwortet, lauert Muriel auf das Ende seines Besuchs. Sie will ihn nach draußen begleiten, um ihn endlich nach Jonathan fragen zu können. Im selben Moment aber, in dem Paul aufsteht, rückt auch Klara ihren Stuhl nach hinten und steht auf. Muriel verschränkt die Hände hinter dem Rücken, gräbt die Fingernägel fest in die Innenflächen, während Klara ihr Schultertuch umlegt. Ihr will kein noch so fadenscheiniger Grund einfallen, aus dem die Mutter im Turm bleiben sollte. In ihrem Kopf findet nichts anderes Platz als die Fragen, die sie sich bereits seit Pauls Ankunft stellt: Wie geht es Jonathan? Ist er verletzt? Ist er noch auf Maas?
Als Klara sich bückt, um ihre schweren Stiefel anzuziehen, tauschen Paul und Muriel einen Blick über ihren Rücken hinweg. Und auf die Frage, die sie ihm stumm stellt, antwortet er ebenso stumm und mit einem kurzen Nicken. Was immer geschehen ist, Jonathan ist in Sicherheit, befindet sich noch immer auf Thul.
Jeden Tag schreibt Muriel Jonathan, und die Briefe stapeln sich bereits unter ihrem Bett. Wenn sie Pauls Boot in der Ferne sieht, dann steckt sie den zuletzt geschriebenen in ihre Rocktasche. Heute!, denkt sie. Doch wenn Paul schweigend an ihrem Küchentisch sitzt, wenn er immer wieder die Achseln zuckt, obwohl ihm niemand eine Frage gestellt hat, dann liegen ihr die Hände wie leblose Tiere im Schoß, und sie weiß, dass sie auch diesen Brief wieder mit in ihr Zimmer nehmen und zu den anderen unters Bett legen wird. Trotzdem folgt sie Paul wie ein erwartungsvoller Geist, ein zutraulicher Schatten rund um die Insel. Zwischen geflüsterten Entschuldigungen und Bitten um Verzeihung lauert sie auf jede seiner Bewegungen. Es sind beinahe zwei Wochen verstrichen, und noch immer wartet sie auf Nachricht von Jonathan.
Er wird und muss ihr in seinen eigenen Worten schildern, was sich in jener Nacht zutrug.
Er wird und muss ihr versichern, dass sich nichts geändert hat, er noch immer an sie denkt, er noch immer einen Weg sucht, das Meer zwischen Thul und Maas zu überwinden.
*
Muriel liegt am Strand und hört nicht die Möwen und nicht die Wellen und nicht den Wind. Sie lauscht auf ein Geräusch, das vielleicht kein Geräusch ist, sondern ein Gefühl, eine Ahnung, dass sich etwas in der Welt verschiebt, ein Brief geschrieben, in einen Umschlag gesteckt und Paul überreicht wird.
Doch es vergehen weitere zwei Wochen, bevor Paul ihr den ersehnten Brief bringt. Er steckt ihn ihr unauffällig im Flur zu. Schnell lässt Muriel das Kuvert in ihrer Rocktasche verschwinden und folgt Paul und Klara notgedrungen über die Türschwelle und in die Küche: Es bleibt ihr nichts anderes, als die zähen Nachmittagsstunden auszuharren. Eingekeilt sitzt sie zwischen Klara und Paul, eine zittrige Hand auf dem Oberschenkel liegend, als fürchte sie, das Papier könne plötzlich zum Leben erwachen, aus der Tasche und auf den Tisch springen, um dort seine Geheimnisse zu verraten. Die Ungeduld spukt ihr
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