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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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durch den Körper, lässt ihre Finger immer wieder nach dem Brief tasten und flüstert ihr böse Gedanken zu: Warum bleibt Paul so lange? Er spricht doch ohnehin nicht.
    Sie senkt den Kopf, verflicht die Finger, zählt von der Hundert bis zur Null und wieder zurück. Noch nie scheint Pauls Besuch so lange gedauert zu haben.
    Nachdem sie das Kuvert aufgerissen und den Brief auseinandergefaltet hat, eilt ihr Blick nur so über die Zeilen. Sie versteht kaum die Worte auf dem Papier, so laut dröhnt ihr ein einziger Gedanke im Kopf: Er hat geschrieben!
    Sie liest »Taucher« und »Meer« und denkt: Er hat geschrieben!
    Sie liest »du« und »ich« und denkt: Er hat geschrieben!
    Sie liest »Peter« und »Angst« und »Schuld« und denkt: Er hat geschrieben!
    Erst der letzte Satz lässt die eigenen Gedanken abrupt verstummen.
    Es gibt Grenzen, liest Muriel, die kann man nicht überwinden. Und versucht man es doch, bringt man sich selbst und andere zu Schaden.
    Muriel runzelt die Stirn, faltet den Brief zusammen, faltet ihn wieder auseinander, liest ihn ein weiteres Mal.
    Was wir haben, ist mehr als genug. Wir haben die Briefe. Wir haben unsere Inseln und einander. Es hat all die Jahre gereicht, und es wird noch viele Jahre reichen. Lass uns die Pläne vergessen und wieder sein, wie wir waren.
    Muriel stopft den Brief in sein Kuvert zurück und holt aus, um ihn ins Meer zu werfen. In letzter Sekunde aber lässt sie ihn zu Boden fallen, greift sich stattdessen einen Stein und schleudert ihn hinaus. Nur wenige Meter von Maas entfernt fällt er ins Wasser. Muriels Beine geben nach und sie geht neben dem Brief zu Boden. Als sie die Augen schließt, da ist ihr, als erhebe sich das Meer zu einer einzigen Welle. Es kommt auf sie zu als blauer Schlund, als die neue Zukunft, und sie ist nicht anders als die Vergangenheit, und sie besteht bloß aus Tagen, die sich aneinanderreihen, und Wochen, die sich aneinanderreihen, und Jahren, die sich aneinanderreihen, und sie sind genau wie die Jahre, die bereits verstrichen sind.
    *
    Muriel kann vieles gut. Sie kann schwimmen, bis zu zehnmal um die Insel. Sie kann reden, schneller und länger als Klara. Sie kann von einem Ende der Insel bis zum anderen rennen, noch bevor sie bis zwanzig gezählt hat.
    Eines aber kann sie nicht, und das ist Warten.
    In Büchern hat sie von zornigen Vätern gelesen, denen bisweilen »der Geduldsfaden reißt«. Muriel kann sich jenen Faden gut vorstellen, von der Schädeldecke bis zur Fußsohle ist er quer durch den Körper gespannt. Doch hätte sie nie gedacht, dass man sein Reißen hören, dass man es fühlen würde. Gerade denkt Muriel, ich kann nicht mehr warten , als der Faden nachgibt, seine Enden auseinanderschnellen und Muriels Oberkörper nach vorn klappt. Einige Sekunden sitzt sie reglos, dann richtet sie sich vorsichtig auf, wankt zu ihrem Bett und lässt sich fallen.
    Anders als gedacht, folgt auf das Reißen des Geduldsfadens nicht die Wut, sondern die Müdigkeit. Die kommenden Tage verbringt Muriel im Liegen. Vormittags liegt sie auf dem weichen Teppich, nachmittags auf den sonnenwarmen Klippen. Stundenlang starrt sie in den Himmel, verliert sich in den Wolken. Die weißen Gebilde erinnern sie an Elefanten, die sie nur aus Büchern kennt, an Berge, die sie nur aus Klaras Erzählungen, an Schlösser, die sie nur von Klaras Fotografien kennt.
    Wenn sie sich an ihren Schreibtisch setzt, um Jonathan zu antworten, kommt sie nie über das Lieber hinaus. Kaum dass sie nach dem Stift greift, wird ihre Hand träge und schwach, der Stift selbst so schwer, dass sie ihn nicht halten, geschweige denn über das Papier bewegen kann. Muriel gleitet von ihrem Stuhl auf den Teppich. Dort bleibt sie liegen, bis Klara zum Essen ruft oder sie einschläft.
    Schon nach wenigen Tagen kann Muriel sich nicht mehr vorstellen, dass sie je wieder die alte Spannung fühlen wird, jenes drängende Knistern, das sie aufschnellen und mit flinker Hand ein, zwei, drei Seiten an Jonathan schreiben lässt. Und als die alte Unruhe wieder aufkeimt, sieht sie zunächst hinweg über das erste Flimmern. Bis ihr plötzlich der Anblick der weißen Blätter, die ihren Schreibtisch bedecken, unerträglich ist. Lieber Jonathan, schreibt sie. Und weil sie nicht weiterweiß, schreibt sie es hundert Mal untereinander: Lieber Jonathan.
    Um etwas zu sagen, denkt Muriel schließlich, bleibt mir nur die Sprache. Sprache ist nichts anderes als eine Ansammlung von Wörtern, eine immense, doch begrenzte

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