Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Anhäufung. Mit dieser muss man arbeiten, anderes gibt es nicht. Will sie das Unmögliche schaffen, kann sie es nur mit den Mitteln des Möglichen versuchen.
Zunächst sammelt sie alle Wörter, die etwas mit ihr, mit Jonathan, mit dem Festland, mit den Inseln zu tun haben. Dann schreibt sie alle Wörter auf, die mit der Wahrheit und der Zukunft und der Hoffnung zu tun haben. Sie schreibt um die Einsamkeit und den Tod und die Trauer und die Freude und die Angst und den Mut herum. Sie sucht nach der geheimen Anordnung, die Jonathan verstehen lassen wird, schreibt in Kreisen und in Spiralen. Danach bringt sie Ordnung in die Worte, baut Türme und Brücken und Türen. Sie schafft Verbindungen und entfernt alles, was den Blick verstellt. Sie schleift und poliert, Wörter fliegen wie Späne.
Am frühen Abend liegen zehn engbeschriebene Seiten vor ihr.
Es gibt nichts zu fürchten, sagt sie sich, als sie den Brief in das Kuvert steckt, und auch, als sie ihn am nächsten Morgen Paul überreicht. Es gibt nichts zu fürchten, denn jedes Wort steht, wo es stehen soll, und wenn Jonathan dem Lauf der gewundenen Sätze folgt, wird er unweigerlich zu derselben Schlussfolgerung wie Muriel gelangen: Hat man sich erst einmal verändert, ist es unmöglich, wieder zu sein, wie man einmal war.
Jonathans Antwort bringt neue Abers.
Aber die Mütter. Aber das Meer.
Muriel muss zwischen den einzelnen Sätzen innehalten, den Brief ablegen und bis zehn zählen, bevor sie ihn wieder aufnehmen kann. Sie macht schmale Augen, streicht die Haarsträhnen aus dem Gesicht, gerade so als müsse sie das Geschriebene nur deutlicher sehen, um es auch zu verstehen. Hat sie sich geirrt, hat sie die entscheidenden Worte gar nicht gefunden oder falsch aneinandergereiht?
Oder ist es vielleicht so, dass ein Brief alleine nicht ausreicht, dass es zehn, hundert, tausend solcher Briefe braucht und sie sein müssen wie eine Spur von Krumen, die Jonathan langsam und Schritt für Schritt von der Insel führt.
Du musst mir glauben, schreibt Muriel in dieser Nacht.
Denn so und nicht anders verhält es sich: Er muss ihr glauben. Eher wird sie nicht aufhören, ihm zu schreiben.
Du musst mir glauben, liest Jonathan wenige Tage später. Und was er ihr alles glauben muss: dass Muriel das Leben auf Maas nicht länger ertrage, dass man die eigene Furcht überwinden müsse, dass ihr alle Briefe der Welt nicht mehr ausreichten und sie beide nun einmal nie wieder so sein könnten, wie sie einmal waren.
Er faltet den Brief zusammen, legt die Stirn auf die Tischplatte und seufzt. Er will ihr ja glauben, doch draußen im Sand liegt noch immer Peters Boot.
Bis weit nach Mitternacht kann Jonathan nicht schlafen und denkt an Peter und den Taucher. Nicht zum ersten Mal fragt er sich, wie der Taucher jene, die er zu sich holt, bei sich behält. Hat er unendlich viele Arme, ein Gewühl von Tentakeln, mit denen er sie festhält? Bindet er sie mit dunklem, feuchtem Garn an den felsigen Untergrund?
Über diese Fragen gleitet Jonathan durch eine unruhige Schicht Schlaf in einen Traum. Er findet sich auf dem Meeresgrund wieder, zwischen Fischen, die reglos im Wasser schweben. Hinter ihnen treibt ein graues Gebilde, das langsam und wie von selbst immer näher an ihn heranrückt, bis es sich unmittelbar vor ihm befindet. Ohne sein Zutun streckt sich seine Hand danach aus. Als er das geschmeidige, doch widerständige Gewebe unter seinen Fingern spürt, erkennt er das Gebilde als Spinnwebkokon. Wie von einer geheimen Strömung erfasst, beginnt der Kokon sich zu drehen. Aus den silbrigen Fäden droht ein Gesicht hervorzubrechen, und Jonathan blickt in ein Paar glasiger Augen. Er erkennt Peter am besonderen Farbton der Iriden, einem beinahe rötlichen Braun. Er reißt die Arme in die Höhe und den Mund weit auf; statt Worten, statt Rufen nach Esther, nach Muriel drängen Luftblasen hinaus, eilen ihm voraus, schnell und schneller wie ein Schwarm aufgebrachter Fische, und er steigt mit ihnen auf, bricht hervor aus der stillen Welt des Tauchers, aus dem Traum und durch den Schlaf, bis er sich, mit feuchtem Haar, mit schnell pochendem Herzen auf dem Boden neben seinem Bett wiederfindet.
Am nächsten Morgen schickt er Muriel neue Abers.
Der Taucher hat sich Peter geholt, liest Muriel, warum sollte er sich nicht auch dich oder mich holen?
Auf diese Frage fällt auch Muriel keine Antwort ein. Es gibt nun einmal keinen guten Grund, keine überzeugende Erklärung, warum man den Taucher nicht
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