Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
Vom Netzwerk:
und als die Nachtstadt noch Minenstadt hieß. Mit fortschreitendem Verlauf der Krankheit aber stachen die Bleichen auch in der kränkelnden Nachtstädter Bevölkerung hervor. Ihr Haar färbte sich weiß und ihre Haut; in das Blau, Grün oder Braun ihrer Augen mischten sich graue Sprenkel, die innerhalb kürzester Zeit alle übrigen Farben abdrängten und die Iriden vollständig weiß werden ließen.
    In den Laboren arbeitete man Tag und Nacht, um ein Heilmittel zu finden. Die Ursache für die Krankheit, der Mangel natürlicher Lichtquellen, war schnell gefunden. Das fluoreszierende Licht, in das man die Nachtstadt getaucht hatte, konnte dem raschen Anstieg der Erkrankungen keinen Einhalt gebieten.
    Während man im Rest des Landes mit zunehmender Dringlichkeit nach Behandlungsmöglichkeiten suchte, konzipierte und konstruierte eine Gruppe Nachtstädter Wissenschaftler das Luftschiff. Finanziert durch private Investoren, unterlag das Projekt strenger Geheimhaltung, welche sich vor allem in strategischen Interessen begründete – ging es doch um die erste erfolgversprechende Therapie gegen die Nachtkrankheit, um eine Monopolstellung auf dem Behandlungsmarkt und beträchtliche Gewinne. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde unter jenen, die bereits an der Nachtkrankheit litten, eine Gruppe von Testpersonen festgelegt und für einen mehrwöchigen Aufenthalt auf die Nereid 23 geschickt.

Jakob
    Es beginnt mit einem weißen Haar. Und über das macht er sich zunächst keine Gedanken. Es beginnt mit einem weißen Haar und Kopfschmerzen, und auch über die will er nicht nachdenken und nimmt zwei Schmerztabletten. Eine Besserung bleibt aus.
    Am frühen Abend verlässt er das Haus, um noch einige Besorgungen vor dem Wochenende zu erledigen. Die künstliche Beleuchtung, welche seit Wochen seine Straße erhellt, scheint ihm an diesem Abend unangenehm aufdringlich. Das irre Flackern der Laternen schmerzt ihm in den Augen, er kneift sie zusammen, fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lider und Brauen. Ein Gedanke kommt ihm. Er drängt ihn zurück, während er den Supermarkt betritt, während er an der Kasse steht, während er wieder nach Hause geht und die Wohnungstür aufschließt. Die ganze Zeit aber spürt er ihn, wie ein sperriger Gegenstand scheppert und poltert er durch seinen Hinterkopf.
    Am Abend kommt das Fieber. In der Nacht schläft er schlecht; gegen Mitternacht hat er das Laken nassgeschwitzt, jedes Zeitgefühl verloren und sich unzählige Male von einer Seite auf die andere gedreht. Bald ist ihm das Liegen unerträglich, und er setzt sich auf. Durch seine Nervenbahnen läuft ein Surren, sein Mund ist trocken. Die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster taucht den kleinen Raum in ein eigenartig staubiges Licht. Etwas hängt in der Luft, Spinnweben, denkt er, ein Nebel, Rauch oder Dunst. Schreibtisch und Schrank kann er nur schemenhaft erkennen.
    Als er aufsteht, muss er sich an der Bettlehne festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In seinem Körper geschieht etwas, für das er keine Worte findet. Langsam setzt er einen Fuß vor den anderen, schleppt sich durch den plötzlich unwahrscheinlich langen Flur bis zum Badezimmer. Als er die große Deckenleuchte im Bad anschaltet, scheint der Raum zu explodieren. Unwillkürlich reißt er einen Arm vors Gesicht und bedeckt seine Augen. Mit der freien Hand schaltet er das Licht wieder aus. Eine Weile steht er im Dunkeln, bevor er sich traut, zumindest die kleine Lampe oberhalb des Spiegels anzuknipsen. Selbst ihr schwaches Licht sticht und brennt ihm in den Augen. Aus dem Spiegel schaut ihn jemand an, der ihm gleichzeitig fremd und bekannt vorkommt. Er hat seine Nase und seinen Mund, aber sein Haar ist schlohweiß, seine Haut wächsern und von feuchtem Schimmer bedeckt, die milchigen Augen lassen Jakob an ausgestopfte Tiere denken.
    Sein Oberkörper krampft, dann bricht es aus ihm hervor, und er übergibt sich. Nachdem er zerkautes, halbverdautes Brot und Galle ausgespien hat, bleibt er neben der Toilette liegen. Erst nach einer halben Stunde gelingt es ihm, sich aufzurichten; langsam kriecht er durch den Flur und zum Telefon. Dort wählt er den Notruf. »Irgendetwas stimmt nicht«, stammelt er in den Hörer.
    Dann wartet er.
    In der Nacht, als Jakob seine Farben verliert, liefert man ihn in ein Krankenhaus ein, in dem er einige Wochen bleibt. In der Klinik gibt es einen separaten Flügel für die Nachtkranken, mit großen Sälen und einer täglich

Weitere Kostenlose Bücher