Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
keine Zeit. Nichts dauert lange oder kurz, es dauert bloß. Die Kälte breitet sich aus zu einem endlosen Feld, er könnte die Arme, die Beine weit spannen und niemanden berühren, keinen Widerstand finden – und keinen Halt. Bis er es spürt, ein Flimmern im Gehörgang, den Schatten, den Abdruck eines Lautes. Streicht ihm jemand übers Gesicht? Er öffnet die Augen. Ein verschwommener, weißer Fleck wandelt sich zu einem aufgebauschten Kleid, zu Schultern, einem Hals, einem Kopf. Muriel nähert sich, ist bei ihm, packt seinen Arm.
Während Muriels Hand Jonathans Arm umschließt, während sie an ihm zieht, während sie ins Nichts tritt, versucht, sich gegen den ungenügenden Widerstand des Wassers abzustoßen und Auftrieb zu gewinnen, schaut sie nicht Jonathan, sondern dem Taucher in die Augen. Und zunächst scheinen sie ihr flächig, wie die äußerste, glänzende Schicht jener Steine, die das Meer über Jahre geglättet hat, doch mit jeder Sekunde, die verstreicht, gewinnen sie an Tiefe, verwandeln sich in Schlünde, die aufreißen, die sich weiten, wie Strudel ziehen sie Muriel hinab, drohen sie in einen ewigen Schlaf, einen endlosen Fall zu stürzen. In weiter Ferne sieht sie verlorene Lichtpunkte wie unachtsam im Dunkel verstreute Sterne. Muriel blinzelt nicht.
Jahrzehnte sind verstrichen, in denen niemand den Taucher angesehen, niemand seinen Blick erwidert hat. Als es das letzte Mal geschah, da war der Taucher noch nicht der Taucher, da wusste er nichts vom Meer; als es das letzte Mal geschah, da wusste er bloß, dass er der Frau, die zurückblickte, folgen würde, vom Rand der Welt und wohin auch immer sie ginge. Und als es dieses Mal geschieht und Muriel zurückschaut und auch das Wasser ihren Blick nicht trübt, ihn nicht verschwimmen lässt, da weiß er, dass sie ihm folgen wird, bis zum Rand der Welt und weiter, bis zum tiefsten Punkt des Meeres.
Wie in stillem Einvernehmen geht ein Ruck durch Muriel, durch den Taucher und durch Jonathan; als Muriel ein weiteres Mal an Jonathans Arm zerrt, löst sich etwas: Der Taucher gibt Jonathan frei.
Jonathan lässt sich von Muriel emporziehen. Gemeinsam steigen sie auf, als sich unter ihnen ein Geräusch entfächert und mit ihnen zusammen der Wasseroberfläche entgegenstrebt, sie durchbricht und sich in kleinen Kreisen verliert, während Jonathan und Muriel ihre Lungen mit Luft füllen. Sie ist kalt, klar und fremd. Am Horizont liegt nicht die Küstenstadt, nicht Thul und nicht Maas, sondern eine graue Stadt unter wolkenverhangenem Himmel.
Die achte Geschichte:
Im Luftschiff
3.
Mit dem neuen Jahr kamen die Wolken, und in den ersten Wochen bedeuteten sie nichts. Oder vielleicht bedeuteten sie schon in den ersten Wochen etwas, nur wusste niemand, was. Nicht überall zogen sie zur gleichen Zeit auf. Als Erstes wurden sie an der Küste gesichtet, von dort zogen sie weiter und türmten sich besonders hoch über der dichtbevölkerten Minenstadt.
Dort sagte man sich, dass sie wieder verschwinden würden, so unvermittelt, wie sie gekommen waren. Und man wartete. Man wartete Wochen und Monate und wartete vergebens. Statt weiterzuziehen, verdichteten sich die Wolken. Und weil die Sonne das Grau bald nicht mehr durchdringen konnte, wurde es Nacht in der Stadt, die man nicht länger die Minen- sondern die Nachtstadt nannte.
Man berief ein Komitee ein. Man beriet und plante, errichtete Laternen in allen Straßen, und sie brannten zu jeder Zeit, sodass sich die Nächte nicht mehr von den Tagen unterschieden. Man behalf sich mit Leuchtschriften und Lichtstrahlern, tauchte die Stadt in ein flackerndes Grellgelb.
Unterdessen reisten Klimaforscher aus dem ganzen Land an, trafen sich auf Konferenzen und zu Krisensitzungen, doch wollte es ihnen nicht gelingen, die Natur der Wolken, ihren Ursprung und wie man ihnen beikommen könnte, zu ergründen.
Von der Nachtstadt aus tasteten sich die Wolken langsam vor, schwärmten aus, griffen um sich und brachten die Nacht bis in die entlegensten Winkel des Landes. Die Wolken jedoch waren nur die Vorboten eines größeren Übels. In ihrem Gefolge, in den Schatten, die sie auf das Land warfen, schlich sich etwas in die Städte, es schlich über die Felder und durch die Wälder und bis in die Dörfer, es schlich bis an die Grenzen des Landes und darüber hinaus. Wenige Monate nach dem Aufziehen der Wolken tauchten die ersten Bleichen auf.
Die Bewohner der Nachtstadt waren schon immer kränklich und blass gewesen, lange vor den Wolken
Weitere Kostenlose Bücher