Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sein gesamtes Reich, sieht jeden Fisch und jeden Stein. Das Wasser trägt noch den kleinsten Laut bis an seine Ohren, und einen Moment lauscht er aufmerksam, bevor er sich vom felsigen Untergrund löst.
Nachdem Muriel einige Minuten geschwommen ist, vertieft sie sich ganz in jene Geräusche, welche die Stille immer wieder durchbrechen. Regelmäßig wie das Ticken einer Uhr teilen sie die Zeit: Hier ist das Schwappen des Wassers gegen ihren Körper, hier ist der eigene Atem, der stoßweise geht.
Jonathan versucht, die Welt zu sich heranzuziehen, die dunklen Wogen mit seinen Augen zu greifen und auf Muriel hin abzutasten. Als er sie findet, ist sie kaum mehr als ein auf und ab schaukelnder Fleck. Er richtet sich auf und winkt mit beiden Armen, öffnet schon den Mund, um nach ihr zu rufen, schließt ihn aber augenblicklich, als er sich an Peter erinnert, an zwei schuppige Arme, die aus dem Nichts wuchsen und ihn aus dem Boot und zu sich zogen.
Inzwischen fällt Muriel alles schwer: sich über Wasser zu halten, das Wasser mit den Beinen zu treten, die Arme nach vorne zu strecken und gegen den Widerstand zurückzubringen.
Sie reckt den Kopf; über die Wellen hinweg glaubt sie etwas zu erkennen. Ein Boot, ein Mann, ein Schatten? Oder doch bloß ein Irrtum?
Der Fleck ist nicht länger ein Fleck, sondern eine Frau mit weißschimmernden Armen und dunklem Haar. Und noch bevor Jonathan ihr Gesicht ausmachen kann, die Form und Farbe ihrer Augen, noch bevor er denken kann, dass sie schöner oder weniger schön oder genau so schön ist, wie er sie sich vorgestellt hat, versteht er, dass die Frau dort draußen nicht die Muriel der Briefe ist. Sie ist nicht die Muriel seiner Vorstellung, mit der er die letzten Jahre gelebt, mit der er zahllose Unterhaltungen geführt hat. Wenn sie mit ihm spricht, wird er nicht im Voraus wissen, ob sie lächeln und nicken oder den Kopf schütteln und widersprechen wird; was sie denkt und fühlt, er wird es vielleicht erahnen, aber sich nicht mit Sicherheit erschließen können.
Gerade lässt er die Ruder sinken und sich selbst auf die Holzbank fallen, als ein unerwarteter Schwung das Boot erfasst. Die Welt gerät in Bewegung; während das Boot kippt und Jonathan sein Gleichgewicht verliert, spürt er, wie er gepackt wird. Schuppige, raue Finger umschließen seinen Arm. Er windet sich, schreit um Hilfe, tritt um sich, sucht vergebens nach Halt und Widerstand. Die Wellen schlagen über seinem Kopf zusammen. Hat er soeben noch nach Muriel, nach Esther, nach Peter und Paul gerufen, ist er nun verstummt. Das Wasser schluckt alle Worte, auch jene, die er noch im Schädel trägt. Er fürchtet, er denkt, er hofft nichts mehr.
Auch auf die Entfernung hin hat der Mann im Boot keinerlei Ähnlichkeit mit Paul. Trotzdem redet sie sich ein, dass er es sein muss, bis sie ihm nah genug ist, um jeden Zweifel auszuschließen: Der Mann im Boot ist kleiner, er ist schmaler als Paul. Sie will winken, seinen Namen rufen, doch ihre Kraft reicht nie weiter als bis zum nächsten Zug. Für einen Moment verliert sie ihn aus den Augen, als eine Woge ihr das Haar ins Gesicht schlägt. Hastig streicht sie die feuchten Strähnen zurück. Das Boot schaukelt verlassen in den Wellen, der Mann ist verschwunden.
Mitten im nächsten Schwimmzug hält sie inne. Die Grenze, versteht sie plötzlich, trennt nicht eine Meile von der nächsten, sie trennt das Wasser und die Luft, die Welt, die sie kennt, von einer anderen, über die sie nichts weiß, die ihr mindestens so fremd ist wie das Festland.
Muriel holt Luft. Und taucht unter.
Das Meer umfasst sie, durchdringt sie und gibt seinen Widerstand auf: Schwerelos, schnell und leicht bewegt sie sich hindurch, lässt sich tiefer und tiefer hinabsinken, bis sie eine helle Sprenkelung in dem trüben Graublau erkennt. Sie hält weiter darauf zu, und die Sprenkel werden zum Fleck, der Fleck zur Form, die Form zum Körper. Nun erkennt sie ihn deutlich, sein dunkles Haar, seine geschlossenen Augen, die Haut, so bleich, dass sie beinahe grünlich wirkt. Und um seinen Rumpf winden sich lange, dürre Gliedmaßen und über seine Schulter hinweg blickt sie ein Paar tiefschwarzer Augen an.
Jonathan denkt an Thul, an den Turm, an sein Zimmer, an Esther. Er denkt an Muriel, die er in weiter Ferne wähnt. Es sind Jahre, es sind Meilen, die zwischen ihnen liegen. Hier unten gibt es nur ihn. Das weiß er, trotz der geschlossenen Lider, der wassertauben Ohren. Hier unten gibt es keine Sprache und
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