Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
ausmacht: Er entzieht sich den Worten.
»Ich sehe gar nichts«, sagt Jonas, und sie schauen beide durch das Fenster und in die Welt hinter dem Glas. »Ich habe es nie vorher gewusst«, fährt er fort. »Egal, wie oft es direkt vor meinen Augen passiert ist, ich habe es nie geahnt.«
»Hast du viel verloren?«, fragt Moira.
»Möbel. Ein Auto. Später meine Wohnung. Aber nichts Wichtiges – ich meine nichts, was –«
Nichts, was ihm oder ihr oder irgendwem erklären würde, warum es eines Tages über ihn kam, und es war wie ein innerer Sturz, ja, so, als sei etwas, ein Kern, der Mittelpunkt seiner Selbst, plötzlich in ihm abgefallen. Er hebt den Kopf, und als er sie ansieht, da versteht sie, dass er um die Krankheit weiß, womöglich mehr weiß als sie.
»Ich kannte einmal jemanden, der –«, sagt sie und verstummt. Sie denkt an den vergangenen Sommer, an den wolkenverhangenen Himmel, die Gewitter im Juni, Juli und August. Und an Marvin, Pips Bruder, der schon im Frühjahr krank geworden war. Weil sie nichts wussten von der Krankheit, weil niemand etwas wusste, erzählten sie ihm und sich selbst, dass er sich bald erholen würde. Tatsächlich verschlechterte sich sein Zustand von Woche zu Woche. Sie erinnert sich, dass er ihr schmaler, kleiner vorkam, obwohl sie sah, dass er nicht schrumpfte, immer noch genauso groß war wie sie. Sie erinnert sich, wie er stundenlang seine Hände und Arme betrachtete, als erkenne er sie nicht wieder. Und wie sie ihn eines Nachts im Wohnzimmer jenes Hauses traf, in dem sie übergangsweise lebten. Sie erinnert sich, dass er auf der Couch saß und seine Arme und Beine hektisch rieb, als wolle er eine reizende Schicht abkratzen, wie er aufblickte und sie ansah und sie nicht erkannte und sagte: »Ich kann es nicht finden, ich weiß nicht, wo es ist.«
Ein paar Tage später sprang er von der Aussichtsplattform eines verlassenen Bürogebäudes auf den »Platz der Bewegung«.
Sie schließt die Augen und lässt sie einen Moment geschlossen.
»Hast du viele Wechsel gesehen?«, fragt sie.
Jonas wiegt den Kopf. An dem Tag, als seine Wohnung verschwand, stand er im Treppenhaus, den Schlüssel bereits in der Hand. Da hörte er es – ein Mahlen auf der anderen Seite der Tür. Und er wollte sich umdrehen, davonrennen. Hinter der Tür aber befand sich sein Zuhause, und weil er nicht wusste, wohin, nicht wusste, was tun, schloss er auf, verpasste der Tür einen Stoß und blickte in die Leere dahinter. Einige Meter entfernt konnte er die Wand des Nachbarhauses sehen.
Doch noch mehr als die Wohnung ist es der Supermarkt, den er nicht vergessen kann. »Ich war gerade erst nach draußen gegangen«, erzählt er Moira, »und stand auf dem Parkplatz. Und als ich mich umdrehte, war der Supermarkt fort. Und alle Leute darin. Alle verschwunden.«
Köpfe im Keller, Hände in Badewannen, denkt Moira.
Jonas schaut sie fragend an. »Aber andere haben viel mehr verloren. Und trotzdem sind sie nicht –« Er stockt. In der Hauswacht ist die Krankheit längst ein bekanntes Phänomen, doch genau wie in der gemeinen Bevölkerung gibt man ihr keinen Namen und spricht nicht über die Symptome. Ihr genaues Ausmaß, der vermutlich immer gleiche Verlauf werden verschwiegen. Ein uneindeutiges Stigma haftet der Krankheit an, ein unguter Beigeschmack. Wie andere Betroffene auch wollte Jonas lange Zeit noch an einen bloß temporären Zustand des Unwohlseins glauben. Ein Teil von ihm hofft noch immer, dass er eines Morgens aufwachen und wieder der Alte sein wird. Auch wenn es ihm von Tag zu Tag schwerer fällt, sich an den Alten zu erinnern.
»Und wie geht es ihm – dem Kranken, den du gekannt hast?«, fragt er.
»Vielleicht hat es etwas mit der Strahlung zu tun«, sagt Moira, statt seine Frage zu beantworten. »Vielleicht verträgst du sie schlechter.«
»Strahlung?«
»Häuser, die gerade verschwunden oder aufgetaucht sind, sie leuchten. Manche sprechen von einer Aura. Mein Freund Pip und ich habe es ›Strahlung‹ genannt. Was immer es ist, es ist da, ich kann es sehen.«
Jonas spreizt die Finger der rechten Hand. Obwohl sie sich seit Tagen taub anfühlt, scheint sie unverändert. Vielleicht ist es das, was er am wenigsten ertragen kann: auszusehen wie er selbst, sich dabei aber wie ein Fremder zu fühlen.
»Wie ist es für dich?«, fragt er. »Wie sehe ich für dich aus?«
»Du schwimmst. Deine Konturen sind –«
»Zerfressen?«, wiederholt er das Wort, welches sie zuvor verwendet hat.
»Ja. Deine
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