Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
seiner Augen zu sagen. Vor allem eines lässt sie sicher sein: Seine Umrisse schwimmen; er flimmert wie ein Haus unmittelbar nach oder vor einem Wechsel. Ein Teil seiner Selbst scheint sich – noch oder bereits – andernorts zu befinden. Weiß er, was mit ihm geschieht?
Noch immer schaut er sie erwartungsvoll an.
»Nein«, sagt sie. »Wir kennen uns nicht.«
Er geht sie nichts an, ermahnt sie sich. Sie ist hier, um Objekte zu finden. Wahrscheinlich weiß er längst, dass er krank ist, und selbst wenn nicht, gäbe es wenig, was sie ihm erzählen, noch weniger, was sie für ihn tun könnte. Seine Krankheit hat keinen Namen, es gibt keine offizielle Bezeichnung, keine Diagnose, kein Klassifikationssystem der Symptome. Moira hat erst einen anderen Fall mit eigenen Augen gesehen, und auch ihm hat sie nicht helfen können.
»Ich muss weiter«, sagt sie. »Außer du hast den Engel hier in deiner Wohnung versteckt.«
Sie spricht zögernd und eine Spur zu langsam, so wie jemand, der lügt oder sich selbst nicht zuhört. Dabei ist sie geübt darin, sich nichts anmerken zu lassen; die Wechselstadt um sie herum mag ver- und zerfallen, doch inmitten der wirbelnden Teilchen scheint Moira stets unberührt, ungerührt. Unschlüssig verlagert sie das Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie denkt an Pip. Sie denkt an Marvin. Sie dreht sich nicht um, sie verlässt nicht das Haus.
Stattdessen setzt sie sich auf die Armlehne seines Sessels.
Jonas zuckt zurück. Es ist lange her, dass ihm ein anderer Mensch nahe war – so lange, dass ihm kein Gesicht einfällt, wenn er versucht, sich daran zu erinnern, und auch kein Name. Hoffentlich fasst sie mich nicht an, denkt er, aber er denkt es nur einen kurzen Augenblick, und dann stellt er sich vor, wie sie ihre Hand ausstreckt und ihm durchs Haar und über das Gesicht fährt. Ihre Finger würden seine Haut berühren, und dann würde sich etwas wiederfinden, etwas zurückgewinnen lassen.
»Er ist in den Kellern. Der Engel«, sagt plötzlich jemand mit seiner Stimme.
Moira steht mit einem Ruck auf, und auch Jonas sieht sich erschrocken um. Entsetzt will er die Worte zurücknehmen, behaupten, nichts zu wissen von dem Engel und den Kellern. Da fällt es ihm wieder ein: Basenzia wird verschwinden. Und mit Basenzia wird auch er verschwinden. Und darum muss nichts mehr bewahrt werden. Auch kein Geheimnis.
»Woher weißt du das?«, fragt Moira.
»Ich war bei der Hauswacht«, murmelt Jonas.
Moira geht einen Schritt zurück, und Jonas hebt die Hände.
»Das ist lange her.«
Moira hält weiter Abstand. »Und du bist dort gewesen? In den Kellern?«, fragt sie.
Jonas nickt. »Ja, eine Zeitlang war ich oft dort.«
Sie wartet, dass er noch mehr sagt, stattdessen deutet er nach draußen, auf den Platz der Bewegung. »Stimmt es?«, fragt er. »Kannst du die Bewegung sehen?«
Sie nickt.
»Wie sieht es aus?«
Sie dreht den Kopf Richtung Fenster. Sie könnte von einem Flackern sprechen, einem verwaschenen Glanz und davon, nicht nur in den Raum, sondern auch in die Zeit zu fühlen; nicht nur die Bewegungen, die andernorts stattfinden, sondern auch die, die erst noch stattfinden werden, zu erfassen, das erste molekulare Beben, das Zittern vor dem Zittern. Die Kanten der Welt geraten ins Schwimmen, wenn sie sich bereit macht für den nächsten großen Wechsel.
»Ich war bloß einmal am Meer«, sagt sie. »Als ich ein Kind war, als wir noch ausreisen durften. Meine Mutter fuhr mit mir ans Nordmeer. Wir wohnten in einer Pension, in Trouwen. Bist du schon mal dort gewesen?«
Er verneint.
»Meine Mutter und ich waren tauchen. Und genau so habe ich es in Erinnerung. Wie alles ungefähr ist und verschwommen. Und die Farben –«
»Die Farben?«
»Aquamarin und Azurblau und Grasgrün. Oder vielleicht sind es ganz andere Farben. Welche, für die wir keine Namen haben.« Sie zeigt auf ein graues Gebäude auf der anderen Seite des Platzes. »Siehst du das alte Rathaus? Es verliert seine Konturen. Die Ränder sind zerfressen.«
»Zerfressen?«
»Ja. Und dann ist es ein wenig so –«
»Wie?«
»Als ob etwas durchscheinen würde. Eine Welt dahinter, ein anderer Raum. Und die eigentliche Welt, die, die du jetzt siehst, ist bloß noch eine Folie, etwas, das man abziehen kann.«
Er wartet, will noch mehr hören, kann es sich immer noch nicht vorstellen. Aber Moira weiß nicht weiter. Sie will es ihm so genau wie möglich beschreiben, vermutet aber, dass es vielleicht genau das ist, was den Wechsel
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