Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
verschwand, als eine neue auftauchte, als sie den Job verlor, als sie Pip traf.
Sie sieht hinunter auf die restliche Wechselstadt. Von der Anhöhe aus kann sie auf fast alle Viertel hinabschauen, auch auf Basenzia. Wie lange würde sie brauchen, um nach unten zu fahren und wenigstens ein paar Häuser zu durchsuchen? Und wie schnell könnte sie wieder hier oben, in sicherer Entfernung, sein?
Wenn ich schnell bin, denkt Moira. Wenn. Wenn. Wenn.
Sie springt auf, läuft zu ihrem Fahrrad und fährt los.
Unterdessen sitzt Jonas müde in seinem Sessel. Bis auf den Sessel und Jonas darin gibt es in dem Loft nicht viel zu sehen. In der Küche stehen ein Kühlschrank und zwei Herdplatten, auf denen lange nicht mehr gekocht wurde. Es gibt ein Bett, in dem lange nicht mehr geschlafen und einen Tisch, an dem lange nicht mehr gesessen wurde. In dem mehrstöckigen Haus ist Jonas der einzig verbliebene Bewohner, und da er nicht plant, es noch einmal zu verlassen, wird er nie wieder einem Menschen begegnen. Aber das bedeutet bloß, dass er nie wieder mit jemandem streiten, sich nie wieder erklären muss. Er kann in Ruhe auf das Ende warten. Darüber denkt er nach, über das Ende, als er ein Geräusch hört. In den letzten Wochen haben sich immer öfter Tiere in das Haus verirrt. Vor wenigen Tagen erst hat er einen Fuchs über den Platz der Bewegung schleichen sehen. Kein Grund also, sich Gedanken über das Geräusch zu machen, und Jonas macht sich keine Gedanken. Auch nicht über die Geräusche, die dem ersten folgen. Erst als jemand die Tür öffnet, richtet er sich erschrocken auf. In seinem Nacken scheint etwas zu reißen, Jonas stöhnt und dreht sich sehr viel langsamer weiter. In der Tür steht ein Junge, groß, hager, ganz in Schwarz gekleidet. Kein Junge – eine Frau, erkennt Jonas erst im zweiten Moment.
»Hier sollte niemand mehr sein«, sagt Moira. Sie lässt den Blick durch das Loft wandern, erfasst Bett, Tisch und Kühlschrank.
»Gibt nichts zu holen«, behauptet Jonas und bricht in einen trockenen Husten aus. Nach kurzem Zögern holt Moira eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und hält sie Jonas entgegen. »Ist bloß Wasser«, sagt sie, als er zögert.
Er nimmt die Flasche entgegen und nestelt umständlich an dem Verschluss, bis es ihm gelingt, ihn zu öffnen.
»Ich dachte, in Basenzia wohnt niemand mehr«, sagt Moira.
»Ich wohne hier«, sagt Jonas.
Sie beobachtet ihn, abwägend und so, als errechne sie Wahrscheinlichkeiten. Für was?, fragt er sich.
»Ich würde nicht hierbleiben«, sagt sie dann. Sie spricht bestimmt und schaut sich um, auf eine Weise, die ihm verrät, dass sie mehr und anderes sieht als er.
»Kannst du … Kannst du sehen, wie lange es noch dauern wird?«, fragt er.
Sie zuckt die Achseln. »Nicht mehr lange. Vielleicht heute noch.«
»Heute?« Jonas’ Finger graben sich in die Armlehnen. Es geschieht ohne sein Zutun. Auch als er bemerkt, wie Moira ihn ansieht, kann er sie nicht lösen. Nachdem sie einen Moment seine Hände angestarrt hat, geht sie in die Küche, wo sie die Herdplatten begutachtet und den Kühlschrank öffnet. Während sie seine Schränke durchsucht, mustert Jonas ihren Rücken, lang und schmal, ihr Haar, dunkel und strähnig. Und etwas in ihm bewegt sich. Dabei ist es lange still gewesen in Jonas. Während die Welt ihren Wechseln nachgeht, hat sich in ihm schon seit einer Weile nichts mehr verschoben. Jetzt aber hört und fühlt er es deutlich, ein Flattern, ein Rascheln. Es fühlt sich an, wie wenn – wie was? Jonas kann sich nicht erinnern. Vielleicht: wie wenn man auf jemanden gewartet hat. Und ihn wiedersieht. Vielleicht: wie wenn man jemanden nach etwas gefragt hat. Und die richtige Antwort erhält.
»Kennen wir uns?«, fragt er Moira.
Moira tritt von den leeren Schränken zurück. »Ich wüsste nicht, woher«, sagt sie. »Ich war noch nie hier. Und du siehst nicht aus, als wärst du in letzter Zeit viel rausgekommen.«
»Ich dachte vielleicht … von davor.«
Moira betrachtet ihn, nein, sie ist ihm sicher noch nie begegnet. Doch mit einem Mal bemerkt sie es: Hier ist etwas, das sie kennt, das sie so schon einmal gesehen hat. Hier ist die alte Schwierigkeit, es zu benennen. Vielleicht ist er bloß krank, leidet an Unterernährung oder Lichtmangel? Sie mustert ihn genauer, und die Zweifel schwinden: Noch während sie ihn ansieht, vergisst sie seine Gesichtszüge; noch während sie ihn ansieht, wäre es ihr nicht möglich, etwas über die Farbe seines Haares,
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