Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Generalschlüssel«, sagt sie und verschränkt die Arme. Bevor Piet oder Marvin weitere Fragen stellen können, fährt sie fort zu sprechen: »Als Erstes muss ich die Aufnahmen sehen.« Sie deutet auf die Bildschirme. »Seit wann flackern die Lampen?«
»Kurz vor zwölf«, antworten die Männer gleichzeitig. Dann spielen sie Miriam Miles das Video vor. Alles, was darauf zu sehen ist, sind die Lichter im Flur und wie sie um Viertel vor zwölf zu flackern zu beginnen. In Kameraaufnahmen sind Fragmente genauso wenig zu sehen wie auf gewöhnlichen Fotos. Während die Aufnahme läuft, verzichtet Piet darauf, sich zum wiederholten Mal das Flackern der Lampen anzusehen. Stattdessen beobachtet er Miriam Miles. Sie blinzelt fast nicht, durch ihre Pupillen geht ein kaum merkliches Rucken; ihre Augen folgen Bewegungen, die niemand außer ihr erfassen kann, suchend und findend gleiten sie über die Leere der Monitore. Schließlich lehnt sie sich zurück und gibt ein unbestimmtes Geräusch von sich.
»In Ordnung«, sagt sie. »Dann fangen wir an.«
»Sollen wir als Erstes zum Fließband gehen?«, fragt Marvin.
»Nein«, antwortet sie. »Ich meine – ich werde zum Fließband gehen. Ich arbeite grundsätzlich allein. Am besten wäre es, wenn Sie den Raum gar nicht verlassen.«
Piet schaut zu Marvin, und Marvin schaut zu Piet. Außenstehende dürfen sich in der Fabrik nicht frei bewegen, sie müssen jederzeit von einem Ghostmanager begleitet werden. Zugleich aber fürchten sie sich vor der Frau, die ins Nichts blicken und so viel mehr als sie beide sehen kann. Jemandem wie ihr ist Piet noch nie begegnet. Sie ist groß, größer als Piet und größer als Marvin. Der Farbton ihres Haares, ihrer Augen ist durchdringender und dunkler als gewöhnliches Schwarz. Selbst ihr Kleid wirkt auffällig, ohne dass Piet sagen könnte, ob es der Schnitt ist oder der schwere, steife Stoff, der ihn sicher sein lässt, auf den Straßen der Endstadt nie etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Doch es ist mehr als nur ihr Äußeres. Sie riecht fremd, nach Schnee, feuchter Walderde und einem ihm unbekannten Meer, weder salzig noch süß.
Als sie sich umdreht, um den Raum zu verlassen, da versucht keiner der beiden, sie zurückzuhalten. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, und sie sind erleichtert.
Johann
Er kommt in einem gleißend hellen Raum zu sich. Die Welt ist ganz aufdringliches Weiß. Schnell schließt er die Augen, doch das Licht hat ihm bereits den Schädel geflutet. Es pulsiert, bildet leuchtende Spiralen und Kreise, gleich hinter seinen Augäpfeln.
Er wartet. Irgendwann fallen ihm Worte in den Kopf, Sätze und Fragen: Ist er unter Wasser? Wo ist er? Wer ist er?
Vor kurzem, meint er, war sein Körper noch wie aus einem Guss, jetzt fällt es ihm schwer, seine Arme und Beine zu erspüren, kann er seine Hände und Füße nicht bewegen. Er horcht in seinen Brustkorb, fühlt, wie er sich hebt und senkt. Wenn ich atme, muss ich an der Luft sein, denkt er. Doch als er die Arme bewegt, spürt er Widerstand, die Schwere und Dichte, die viel eher mit Wasser einhergehen. Seine Füße berühren keinen Boden, er sitzt nicht, er liegt nicht, er schwebt in einer gallertartigen Masse. Noch immer ist es zu hell, als dass er seine Umgebung erkennen könnte. Vorsichtig streckt er die Arme aus, bewegt den neuen Körper im fremden Raum. Kaum, dass er den Ablauf zwischen Schwimmen und Fliegen, Schweben und Tauchen gemeistert hat, stößt er gegen etwas Hartes. Allmählich stellt sich der Raum scharf, aus den ungefähren Umrissen werden Tatsachen: Zu seiner Rechten und Linken sowie direkt vor ihm befinden sich Glaswände. Er hebt die Hände, um gegen die Scheibe zu hämmern, bringt aber nicht mehr als ein schwaches Klopfen zustande. Als er versucht, zu schreien, stiehlt sich bloß ein dünnes Pfeifen zwischen seinen Lippen hervor. Er formt ein kaum hörbares »Hilfe« .
Nichts passiert, niemand antwortet. In der verschwommenen Welt hinter dem Glas kann er keine Bewegungen ausmachen und keine Gesichter. Wo ist er, wie ist er hierhergekommen, und wo ist er zuvor gewesen?
Er taucht ein in das Sammelbecken seiner umherschwirrenden Gedanken, sucht nach einer Erinnerung, einem Wort, einem Bild. Und findet: die Schmerzen. Heiß und laut, surrend und zischend und pochend und drückend und reißend und hämmernd und brennend und lähmend. Und hinter den Schmerzen liegt ein Name, sein Name: Johann. Und nun erinnert er sich, über eine Straße gelaufen zu sein,
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