Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
zu flackern.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis irgendwer sein Verschwinden bemerkt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie jemanden schicken, ihn zu finden, ihn zurückzubringen.
Als sie im Gang erscheint, ist er beinahe erleichtert. Leise und zögernd nähert sie sich, bleibt erst stehen, als der Abstand zwischen ihnen so gering ist, dass er ihr Gesicht erkennen kann.
Ihr Gesicht.
Er stockt. Schaut genauer hin. Kein Zweifel, er kennt sie. Er durchforstet das Chaos seiner ungeordneten Erinnerungssplitter und bekommt einzelne Bilder und Informationen zu fassen.
Sie wohnt in seiner Straße, in dem Haus seinem gegenüber.
In den letzten Jahren ist er ihr oft begegnet. Im Supermarkt. Im angrenzenden Park. Dort, erinnert er sich, geht sie laufen, ungeachtet der Jahreszeit, ungeachtet der Wetterlage. Er sieht sie jetzt deutlich vor sich: Durch den Regen, durch den Schnee, durch die flimmernde Hitze sprintet sie zwischen den Bäumen hindurch, einmal um den kleinen See und weiter in das nahegelegene Waldstück. Ihr Blick geht ins Leere oder einem weit entfernten Punkt entgegen. Sie läuft, als sei ihr etwas auf den Fersen, grüßt keinen der anderen Läufer, bleibt nicht stehen, um Kinder oder kleine Hunde zu bestaunen.
Und weiter:
Gleich, ob sie durch den Park rennt oder an der Supermarktkasse steht, immer wirkt sie angespannt und wie jemand, dem alles schwerfällt, auch und vor allem das Leichte. Sicher runzelt sie im Schlaf die Stirn, ballt die Hände zu Fäusten.
Einmal sieht er sie im Bus, an der Haltestelle hinter dem Hochschulcampus, vor der Akademie für Spiritographie aussteigen. Deswegen vermutet er, dass sie an der Universität unterrichtet, vielleicht promoviert. Er kann sie sich gut vorstellen, wie sie strenge Fragen stellt, es nicht müde wird, Textränder mit Anmerkungen und Korrekturen zu füllen. Lange Zeit fürchtet er sich vor ihr.
Und auch hieran erinnert er sich:
Eines Nachmittags sieht er sie auf einer der Parkbänke sitzen. Ihr Atem geht schnell, steigt in weißen Wolken auf und verliert sich in der Winterluft. Sie muss bis eben noch gerannt sein. Und wie sie dort sitzt, eine Hand auf dem linken Knie, so als würde es sie schmerzen, da fällt ihm etwas auf, über das er sich bisher kaum Gedanken gemacht hat: dass sie traurig aussieht. Er ist nicht sicher, warum es ihm erst und ausgerechnet an diesem Nachmittag auffällt. Vielleicht ist es der Ausdruck in ihrem Gesicht, niedergeschlagen und in sich gekehrt; vielleicht ist es ihre Körperhaltung, die fehlende Spannung, vielleicht auch das Zusammenspiel von alldem. Alles greift ineinander; wie sie die Brauen zusammenzieht, wie eine glasige Schicht ihre Augen bedeckt, wie ihre sonst so geraden Schultern nach vorne sacken und sie nun die Hände im Schoß faltet. Obwohl er weiß, dass sie groß ist, größer als er, wirkt sie klein und jung. Sie erinnert ihn an die Mädchen aus seiner Schulzeit, die unter Bäumen oder in Ecken saßen, ein Buch auf den Knien liegend, die anderen Kinder argwöhnisch musternd, immer in Erwartung gehässiger Zurufe und versteckter Angriffe.
Er findet heraus, dass Freunde von Freunden von Freunden sie kennen. Oder zumindest ihre Mutter, bei der sie lange gelebt hat. Über die Freunde erfährt er auch ihren Namen.
Miriam.
Dass es wenig über sie zu sagen gäbe, erklären die Freunde. Sie sei eine sehr private Person, in sich gekehrt, niemand wisse genau, wo sie arbeite, lediglich über ihre Mutter, die am anderen Ende der Stadt wohne, erfahre man noch das ein oder andere.
Manchmal, wenn er sie auf der Straße trifft, sie ihr Fahrrad neben sich herschiebt oder Einkaufstüten trägt, dann stellt er sich vor, dass er die Hand heben, vielleicht ihren Namen sagen wird. Doch entscheidet er sich stets dagegen. Er wüsste ja nicht einmal, was er zu ihr sagen sollte.
Die ersten Minuten über starrt sie blinzelnd seine Stirn an, dann scheinen sich ihre Pupillen scharf zu stellen: Sie schaut ihm in die Augen. Er ist sicher, dass sie ihn nicht erkennt. Sein Mund ist trocken; er setzt an zu sprechen, aber kein Laut geht ihm über die Lippen. Er schluckt, befeuchtet die Lippen, versucht es ein weiteres Mal.
»Entschuldigung«, flüstert er. »Ich kenne Sie, wir kennen uns, können Sie mir helfen, bitte helfen Sie mir.«
Miriam
In jeder Fabrik ist es das Gleiche, auch, wenn man sie bereits kennt. Man gewöhnt sich nicht an sie, man hört nicht auf, sich zu fürchten. Manche sind mutiger als andere, fragen nach dem Apparat
Weitere Kostenlose Bücher