Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
öffnet und wieder schließt. Er versucht, sich zu erinnern, wo er eine ähnliche Maschine schon einmal gesehen hat, doch seine Gedanken verkleben, als hätte ihm jemand Leim in den Schädel gegossen. Noch während er sich mühevoll durch sein altes Leben zurücktastet, stolpert er wiederholt über die Frage, worüber er gerade nachdenkt, woran er sich zu erinnern versucht.
Nicht nur in seinem Kopf, nein, in seinem ganzen Körper vollzieht sich ein Wandel: Er hat nicht länger das Gefühl, frei zu schweben, sondern schwer in unsichtbaren Seilen zu hängen. In seinen Fingerspitzen, in der Nase, auf den Wagen und der Stirn spürt er ein sachtes Stechen, einen kribbelnden Sonnenbrand, an dem er zunächst Gefallen findet. Bis die Empfindung an Intensität gewinnt, so, als riebe ihm jemand mit Sandpapier grob über die Haut. Er spreizt die Finger der rechten Hand, hält sie dicht vors Gesicht. Weiße Flöckchen lösen sich von seiner Haut und streben durch den Tank der dunklen Platte entgegen. Das Rattern steigt an, das Prickeln wird zum Beißen. Johann will sich zusammenkugeln, die Arme vors Gesicht reißen, der neue, luftige Körper aber bietet keinen Schutz, genauso wenig wie der Tank. Er rudert mit den Armen, strampelt mit den Beinen, wirft sich gegen die Glaswand und steigt auf. Anders als gefürchtet, hält ihn nichts im Tank; nach oben hin ist das gläserne Gefängnis geöffnet. Er zieht sich über den Rand und fällt, nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Blatt, eine Feder fallen würde: langsam taumelnd, einer unsichtbaren Spirale folgend.
Die Maschine im Tank arbeitet im Leerlauf weiter: Das Rattern wird zum Leiern.
Nachdem er eine Weile auf dem Boden gelegen hat, richtet er sich auf. Aus den Augenwinkeln nimmt er ein Fließband wahr. Er besieht sich weder das Band noch den Tank, achtet darauf, so wenig wie möglich von seiner Umgebung wahrzunehmen. Das Einzige, was er über diesen Ort wissen möchte, ist, wie er ihn schnellstmöglich verlassen kann.
Aus dem Tank ist er zurück in die Schwerkraft gefallen, jedoch nur mit einem Fuß in ihr gelandet: Es gelingt ihm nicht mehr, frei im Raum zu schweben, gleichzeitig fühlt er sich nur unzureichend mit dem Boden verbunden, fürchtet, jede Sekunde in unzählige Einzelteile zu zerfallen, als bloße Ansammlung von Worten und Bildern durch den Gang zu wabern. Sein neuer Körper will sich ihm nicht erschließen, scheint mehr Illusion als Tatsache. Umso überraschter ist er, als er an der nächsten geschlossenen Tür abprallt. Sie muss aus dem gleichen undurchlässigen Material wie das Glas des Tanks gefertigt sein. Zögernd streckt er die Hand nach der Klinke aus. Erst beim dritten Versuch finden seine Finger Halt, und es gelingt ihm, die Klinke herunterzudrücken. Die Tür ist nicht abgeschlossen und der Gang hinter ihr verlassen, keine Sicherheitsmänner stellen sich ihm in den Weg, kein Alarm erklingt. Eilig läuft er durch den Gang, doch noch bevor er das Treppenhaus erreicht, lässt ihn ein Gedanke jäh zum Stillstand kommen.
Seine Flucht führt ins Nirgendwo. Er läuft einer Tür entgegen, von der er nicht einmal sicher ist, ob er sie durchschreiten kann. Es ist gut möglich, ja, wahrscheinlich, dass sich die Grenzen seines ungefähren Körpers außerhalb des Fabrikgeländes auflösen werden und er selbst sich zur atmosphärischen Störung verflüchtigt.
Aber welche anderen Möglichkeiten hat er?
Er kann an Ort und Stelle bleiben, ausharren und darauf hoffen, dass jemand kommen wird, um ihm zu helfen. Nur weiß er bereits, dass es keinen Fehler gibt, der korrigiert, kein Missverständnis, das aufgeklärt werden müsste: Er ist genau dort, wo er sein sollte.
Er kann sich in sein Schicksal fügen und in den Tank zurückkehren. Aber er muss nur an das Summen, das Rattern, das Prickeln denken, um zu wissen, dass er es vorzieht, für den Rest aller Zeiten durch die Fabrik zu irren.
Langsam setzt er sich wieder in Bewegung, dem Ausgang entgegen, und gerät an eine weitere Sicherheitstür. Doch dieses Mal geschieht nichts, als er die Klinke herunterdrückt. Auch nicht, als er an ihr rüttelt und sich gegen den rostroten Stahl presst. Er muss lachen, dann weinen, beides aber fühlt sich nicht recht überzeugend an, und er rutscht zu Boden. Von hier an wird es für ihn nur noch das geben: die Gänge der Fabrik, die Treppenhäuser und Türen, keine Menschen mehr, keine Gespräche, keine Berührungen. Er starrt die gegenüberliegende Wand an, und die Lampen beginnen
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