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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Zweifel.
    Die wenigsten arbeiten länger als ein paar Jahre in den Fabriken. Obwohl die Arbeit gut bezahlt ist, treibt sie etwas davon, ein ungutes Gefühl, das sie bereits in den ersten Monaten überkommt, sie schnell ganz ausfüllt und in ihnen härtet. Von denen, die in der Putzkolonne arbeiten, bis zu den Ghostmanagern ist es bei allen das Gleiche: Mit jedem Morgen, der anbricht, fällt es ihnen schwerer, das Haus zu verlassen und sich auf den Weg in die Fabrik zu machen. Die vage Unlust wandelt sich bald in einen deutlich spürbaren Unwillen und dieser in einen unerträglichen Widerwillen. Das sichere Gehalt erscheint plötzlich unwichtig. Gegen alle Vernunft wollen sie umkehren, zurück nach Hause, zurück zu ihren Kindern, Frauen oder Männern, um nicht mehr und nie mehr an die Fabriken denken zu müssen.
    Es ist eine Spiritographie zu wenig.
    »Wir müssen den Vorsteher anrufen«, sagt Marvin, aber Piet schüttelt schnell den Kopf. Wenn er es vermeiden kann, geht er seinem Vorgesetzten aus dem Weg. Im letzten Jahr ist er ihm vielleicht ein Dutzend Mal begegnet. Der Vorsteher taucht nur in unregelmäßigen Abständen in der Fabrik auf und verschwindet für Stunden im Archiv. Was er dort tut, weiß Piet nicht. Im streng hierarchischen System der Fabrik gibt es wenig Transparenz, und ihr Kontakt beschränkt sich auf die kurzen, gefürchteten Treffen auf dem Gang, wenn Piet dem Vorsteher gegenübersteht und betreten mit den Füßen scharrt. Obwohl er noch nie getadelt oder ermahnt wurde, fühlt er sich unter dem Blick des anderen Mannes unwohl, so als sei ihm ein Fehler unterlaufen oder als habe er einen bewussten Verstoß begangen, dessen Aufdeckung unmittelbar bevorstehe. Bei keinem ihrer bisherigen Treffen ist es Piet gelungen, dem anderen Mann in die Augen zu schauen; über ein Nuscheln ist er nie hinausgekommen. Sogar seine Haltung und Sprache verändern sich: Er zieht den Kopf ein, gibt ausweichende Antworten und entschuldigt sich grundlos.
    »Lass uns selbst einen Spiritographen anrufen«, sagt Piet darum.
    Zunächst scheint Marvin widersprechen zu wollen, dann nickt er.
    Sie entscheiden sich für den obersten Namen in der Liste, ausgewiesen mit dem höchsten Honorar, den besten Referenzen und einer beeindruckenden Erfolgsquote. Laut Profil ist der Name der Spiritographin Miriam Miles, aber Piet vermutet, dass es sich um ein Pseudonym handelt.
    Am Telefon ist ihre Stimme überraschend tief, sie spricht die Worte präzise, übergenau aus. Noch bevor er ihr begegnet ist, fürchtet er sich vor ihr.
    Piet starrt auf die Monitore. Vielleicht, denkt er, wenn man lange genug, wenn man genau genug hinschaut … doch er kann schauen, so lange er will, bis auf das Flackern der Lampen gibt es für ihn nichts zu sehen. Es wird etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als Piet auf einem der äußeren Monitore einen dunklen Fleck registriert. Er tritt näher an den Bildschirm. Auf dem gerade noch verlassenen Vorhof steht ein Motorrad. Von der Person, die es dort abgestellt haben muss, ist nichts zu sehen. Piet mustert die Monitore, welche flächendeckend das Außengelände zeigen. Noch immer kann er Miriam Miles auf keinem einzigen entdecken.
    »Ich glaube, sie ist schon in der Fabrik«, sagt er.
    Marvin neben ihm fährt auf. »Wie ist sie reingekommen?«, fragt er.
    Piet zuckt die Achseln. Es gibt bloß einen Fabrikeingang, eine schwere Sicherheitstür, die Touristen, Reporter, vor allem aber Jugendliche, die sich Mutproben stellen, fernhalten soll. Den Code, der sie öffnet, kennen nur Piet, Marvin und der Vorsteher.
    Gemeinsam suchen sie die Monitore ab und entdecken Miriam schließlich in einem der Gänge, unweit des Überwachungsraums. Menschen haben im Unterschied zu Fragmenten keinen Einfluss auf die Elektrizität, weiß Piet, trotzdem wirkt es, als würde ihr das Flackern der Lampen durch den Gang folgen. Kurz darauf verschwindet sie vom letzten Bildschirm.
    »Ich verstehe nicht, wie sie …«, setzt Marvin an, als sich die Tür in ihrem Rücken öffnet.
    Langsam drehen sie sich um.
    Piet will Miriam Miles fragen, wie sie durch die Sicherheitstür gekommen ist, woher sie einen Schlüssel für den Überwachungsraum hat, aber seine Zunge klebt ihm wie ein pelziges Tier am Gaumen.
    Miriam Miles mustert die beiden Männer, als sei sie überrascht, sie hier vorzufinden, als fände sie ihre Arbeit durch eine unerwartete Komplikation erschwert. Ihre Mundwinkel zucken, sie runzelt die Stirn.
    »Ich habe einen

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