Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
erinnert sich an einen Aufprall, eine unglaubliche Wucht und daran, wie Stimmen und Schreie über ihn hereinbrachen. Wie es sehr laut war und dann, von einer Sekunde auf die nächste, sehr still.
Bevor Johann zu etwas wurde, für das es viele Namen gibt, war er bloß ein Mann in der Welt und davor ein Junge, dem zu viel Nacht durch den Kopf gezogen war.
Er muss zehn Jahre alt gewesen sein in dem Sommer, als kurz vor der Küste nahe der Endstadt ein Passagierschiff kenterte. Bei dem Unglück starben etwa 500 Menschen, auf deren unvorhergesehenes Ableben man in den Geisterfabriken nicht vorbereitet war. Einen ganzen Sommer verschwand die Endstadt unter einer schweren Wolkendecke.
Er könnte nicht den Tag benennen, an dem er erfuhr und verstand, was es auf sich hatte mit dem diesig-nebeligen Wetter, das so unerklärlich über sie hereingebrochen war. Doch er erinnert sich, dass er einmal die Mutter belauschte, wie sie im Flur stand und in den Telefonhörer sprach, leise und verstohlen. In dieser Zeit, als die Wolken tief standen und die Notfall-Lampen Tag und Nacht die Endstadt erleuchteten, häuften sich die Vorfälle, über die man nur leise und in dunklen Fluren sprach, wenn man glaubte, die Kinder schliefen bereits. Die Mutter flüsterte, sie sei auf dem Weg zur Schule gewesen, das Kind abzuholen, sie sei um eine Ecke gebogen, und da habe sie es plötzlich gespürt. Es sei, wie als sie einmal im Meer geschwommen und in eine Kältebank geraten sei. Das Wasser sähe ja, sagte sie, genau gleich aus, grau oder blau, fühle sich aber anders an. Und ähnlich sei es an diesem Tag gewesen, sie habe nichts gesehen, keine Wolke, keinen Nebel, aber sie habe es gespürt und stillgestanden habe sie, Minuten oder Stunden, das wisse sie nicht, einen seltsamen Geschmack im Mund, einen seltsamen Geruch in der Nase und Worte und Namen und Zahlen im Kopf, die ihr wichtig erschienen, die sie nicht habe vergessen können, obwohl sie doch keine Bedeutung für sie selbst gehabt hätten.
Und auch Johann im Flur konnte nicht vergessen, die Worte der Mutter nisteten sich ein. Er bog um Hunderte Ecken, immer in Erwartung der kalten Welle, der plötzlichen Taubheit. Doch nicht einmal ein vorübergehendes Gefühl des Unwohlseins überkam ihn.
Es folgten die Nächte, in denen er lange wach lag, sich vorstellte, wie er mit jedem Luftholen Menschen ein- und wieder ausatmete. Während des dunklen Sommers glaubte er, sie auch tagsüber zu sehen; unter dem gewittrig gelben Himmel, im dämmrigen Licht tauchten ihre Gesichter zwischen den Bäumen und in den Wänden auf, Augen, die aufmerksam schauten, Münder, die sich öffneten, aber keine Worte freigaben und keine Laute.
Johann wurde älter. In der Schule und zu Hause und überall sonst in der Welt lernte er, dass es unmöglich sei, sie mit bloßem Auge zu sehen.
»Sie sind keine Menschen«, erklärte ihm die Mutter. »Sie denken nicht wie du. Sie fühlen nicht wie du. Sie sind ein Echo.«
Er nickte und glaubte ihr nicht.
Bald begann er, sich zu fürchten vor den gemeinsamen Autofahrten mit seinen Eltern. Hinter seiner Mutter auf der Rückbank sitzend, hielt er Ausschau nach den Transportern, großen, schweren Wagen, in welchen die Zylinder von den Bestattern zu den Fabriken gebracht wurden. Wenn er einen Transporter auf der entgegenkommenden Spur sah, wie er sich ihnen näherte, dann konnte er sich vor Anspannung kaum noch auf seinem Sitz halten, presste sich gegen den Sicherheitsgurt, lehnte die Stirn gegen die Glasscheibe, um einen möglichst langen, möglichst genauen Blick auf das Fahrzeug werfen zu können. Im entscheidenden Augenblick aber drehte er den Kopf stets zur Seite.
Einige Jahre, einige Jahrzehnte früher als erwartet ist der Moment nun gekommen, ist Johann nicht mehr Johann. Trotzdem denkt er, fühlt er, fürchtet sich; und trotzdem versteht er seine Lage: Er befindet sich in einem Tank, in einer Geisterfabrik. In Kürze, wenn der Konservierungsprozess beginnt, wird Johann eine Dimension verlieren, sich zur Fläche, zur Fotografie wandeln, und jeder seiner Gedanken, jedes seiner Gefühle wird gefrieren.
Plötzlich hört er ein Rattern. Unmittelbar hinter der Glaswand muss eine Maschine eingeschaltet worden sein. Noch immer fällt es ihm schwer, seine Umgebung auszumachen. Er lässt sich blinzelnd in Richtung des Dröhnens treiben. Als er an die Scheibe stößt, drückt er die Stirn gegen das Glas und schaut.
Etwas schaut zurück.
Ein gläsernes Auge, das sich schließt,
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