Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
und ob sie ihn halten dürfen.
Nein, sagt sie dann.
Die zwei, die ihr jetzt gegenüberstehen, schauen stumm zu Boden. Sicher fragen auch sie sich, ob es stimmt, dass man mit dem Spiritoapparat nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden spiritographieren kann. Ist es möglich, ihnen die Seelen aus den Körpern zu ziehen?
Das ist es, weiß Miriam. Zurück bliebe ein Knochengerüst, ein unbewohnter Kokon aus papierner Haut.
Miriam umfasst die Gurte, die den Spiritoapparat auf ihren Schultern halten. Obwohl es sich um ein schweres Gerät handelt, hat sie sich mittlerweile so an sein Gewicht gewöhnt, dass sie nur noch dann an ihn denkt, wenn sie ihn auch benutzt.
Sie lässt sich von den beiden Männern die Monitore zeigen. Während sie gemeinsam auf den Bildschirm starren, fürchtet Miriam, dass die beiden sie fragen werden, was genau sie die nächste Stunde tun wird, worin ihre Arbeit besteht. Denn wenn Miriam versucht, ihre Tätigkeit zu erklären, geht immer etwas verloren, benutzt sie die falschen Worte und kann die entscheidenden nicht finden.
Nur wenige können die Spiritographie erlernen. Die Ausbildung beginnt bereits im Kindesalter, wenn die Augen und Ohren noch wachsen. Bei manchen verliert sich das Talent wieder, noch bevor sie volljährig sind. Bei anderen reift es über die Jahre, kann durch die Schulung noch verstärkt und verfeinert werden. Selbst unter den Begabtesten sticht Miriam hervor. Die meisten Menschen glauben, die Kunst läge vor allem darin, die Fragmente zu sehen, sie aufzuspüren. Tatsächlich ist es dieser Teil, der Miriam am leichtesten fällt. Die Herausforderung liegt für sie vielmehr darin, den Spiritoapparat zu bedienen. Während des Spiritographierens setzt der Handapparat die gleichen Energien frei wie die größere Maschine unten am Fließband. Miriam muss all ihre Kraft aufbringen, um den Apparat fest im Griff zu halten, während die Spiritmaterie zwischen ihren Fingern hindurchläuft, sich verfestigt, starr und leblos wird. Dann fühlt sie das letzte Aufbäumen, den letzten Widerstand, bevor sie ihn bricht.
In der Nacht vor ihrem neunten Geburtstag wurde Miriam gefunden. Nach Kindern wie ihr suchte man im ganzen Land, man schwärmte aus, ging Gerüchten nach und sah sich an Schulen um. Es gab nicht viele wie sie, Kinder, die hören und sehen konnten, was anderen verborgen blieb. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die Akademie für Spiritographie auf sie aufmerksam wurde.
Es kam zu den erwartbaren Komplikationen: Das Kind sträubte sich, die Mutter zögerte. Doch waren auch Miriams Mutter die Tatsachen bekannt. An der Akademie aufgenommen zu werden, war etwas Besonderes, eine Auszeichnung und – wie sich im Gespräch mit den Vertretern der Akademie herausstellte – finanziell mehr als lohnend. Die Entscheidung aber sollte Miriam allein treffen.
Miriam fürchtete sich vor den Vertretern, vor der Akademie, vor allem fürchtete sie sich davor, von ihrer Mutter getrennt zu werden. Noch während sie aber auf dem Küchenhocker saß, mit den Beinen baumelte, sich prüfend mustern ließ von den beiden Vertretern, da spürte sie ein angenehmes Kribbeln unmittelbar unter der Kopfhaut und im Nacken: Sie waren wegen ihr gekommen. Sie, Miriam, wurde zu jemandem, den man gesucht hatte, wegen dem man viele Meilen zurückgelegt hatte, für den man weit gereist war, den man für sich gewinnen und bei sich haben wollte. Sie, Miriam, war etwas Besonderes, war ein Ereignis. Und es war die Aussicht, nicht länger bloß eigenartig, sondern einzigartig zu sein, die sie ihre Entscheidung treffen ließ.
Schnell fand Miriam ihren Platz an der Akademie, wurde die Beste ihrer Klasse, die Beste ihres Jahrgangs. Und im Lernen und im Gelobt- und Angespornt- und Hervorgehobenwerden vergaß sie ihre Geister. Während sie lernte, die schimmernde Materie immer leichter und schneller zu erkennen, verlernte sie gleichzeitig, sie als etwas anderes wahrzunehmen, vergaß, dass sie ihr einmal so viel mehr gewesen war als bloß ein flüchtiger, nicht greifbarer Stoff.
Draußen im Flur ist sie nicht länger abgelenkt durch die Stimmen der Männer und kann dem Ziehen nachgeben, das sie schon im Überwachungsraum gespürt hat. Sie läuft in den unterirdisch gelegenen Teil der Fabrik, wo sich der Konservierungsraum und die Archive befinden. Um ein besseres Gefühl für das Fragment zu bekommen, macht sie im Konservierungsraum Halt. Sie tritt dicht an den Tank, legt ihr Gesicht an die Scheibe, spürt das
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