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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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kalte Glas und dahinter: Spuren, Rückstände der Materie, die hier hätte fixiert werden sollen.
    Wenn etwas schiefgeht, weiß sie, dann meist in dieser Phase, im Tank. Durch die Komprimierung wird das Bewusstsein noch einmal verdichtet und in Teilen zusammengesetzt, wenige Minuten bevor man es endgültig stillstellt. Dass die Tanks trotzdem nach oben hin geöffnet sind, hat praktische Gründe: Die fertigen Spiritographien müssen von den Greifzangen herausgezogen und in den Auffangraum abtransportiert werden. Miriam glaubt, dass man die mangelnden Sicherheitsbedingungen vor allem wegen der Ghostmanager in Kauf nimmt. Man kann ihnen schlecht versichern, dass sie es lediglich mit Ansammlungen von Gedankenfetzen und Bildern zu tun haben, sie gleichzeitig aber vor Ausbrüchen und Fluchtversuchen warnen. Tatsächlich kommt es äußerst selten vor, dass es einem Fragment gelingt, die Splitter seines Bewusstseins zu ordnen und vollständig zusammenzusetzen.
    Seine Spuren liegen noch in der Luft, bläulich kühle Streifen, die Miriam frösteln lassen. Sie starrt angestrengt in den Tank und lässt die Gedanken zu dem wandern, der sich bis vor kurzem auf der anderen Seite der Scheibe befand. Und dann unterläuft ihr der Fehler.
    Sie verpasst den Augenblick, in dem sie den inneren Riegel vorschieben müsste, stellt sich vor, wie das Fragment im Tank die Augen öffnet, etwas denkt, etwas fühlt, sich an seinen Namen erinnert und an die Welt dort draußen.
    Im Rahmen ihrer Ausbildung hat Miriam gelernt, die Fragmente nicht zu vermenschlichen, an Orten wie diesen einen Teil ihrer selbst weit zu öffnen und einen anderen zu verschließen. Doch schon während ihrer letzten Aufträge sind ihr immer öfter Missgeschicke unterlaufen, haben sich die Ausfälle gehäuft, Momente, in denen ihr die Zweifel wie ein metallener Geschmack im Mund liegen, tief im Schädel dröhnen.
    »Vielleicht höre ich bald auf«, hatte sie in der Woche zuvor zu ihrer Mutter gesagt und gleich darauf lachen müssen. Schon während sie den Gedanken wie ein Geheimnis im Kopf getragen hatte, war er ihr unwahrscheinlich, nicht ganz ausgereift erschienen. Doch erst als sie ihn aussprach, offenbarte er sich ihr als absurd und denkbar unglaubwürdig. Genauso gut hätte sie ihrer Mutter erzählen können, dass sie eine Pension am Meer eröffnen oder heiraten würde.
    Nichts davon wird geschehen. Ihr Beruf gehört zu ihr wie ihr Name. Er ist in ihr, wie ihr Rückgrat, hält sie aufrecht und zusammen. Sie ist eine Spiritographin. Und nur weil sich die Arbeit mit jedem Auftrag weniger wie eine Arbeit und mehr wie eine Krankheit anfühlt, kann sie nicht einfach beschließen, keine Spiritographin zu sein, so wenig, wie sie entscheiden kann, nicht mehr Miriam sein zu wollen.
    Miriam wendet sich vom Tank ab, blendet die Gedanken wie unliebsame Störgeräusche aus und folgt den Spuren durch verlassene Gänge und das Treppenhaus. Unterwegs begegnet sie niemandem; das Personal in den Fabriken ist stark begrenzt: Es gibt die Manager, einige Wartungsleute, Reinigungskräfte und den Vorsteher. Die Fragmentverarbeitung läuft fast ausschließlich maschinell ab – laut offizieller Begründung, weil es so günstiger sei. Miriam vermutet, es gehe vielmehr darum, so wenig Menschen wie möglich diesen Ort betreten zu lassen.
    Als sie in den nächsten Gang biegt, wird sie langsamer, mustert die Wände, die Lampen, den Boden. Wenn man sie fragt, ob sie die Fragmente tatsächlich mit bloßem Auge sehen kann, zuckt sie stets die Achseln, die Antwort ist komplizierter als ein Nicken oder ein Kopfschütteln: Sie sieht sie, aber nicht so, wie man einen Schrank, einen Menschen, einen Hund oder Baum sehen würde. Das Sehen ist anstrengend, mehr ein Beobachten, ein konzentriertes Fokussieren und Starren. Zunächst kann sie bloß einen verwaschenen Fleck ausmachen, den sie heranziehen und formen muss. An der Akademie hat sie jene Techniken erlernt, auf die immer Verlass ist. So hält sie nie nach einer menschlichen Form Ausschau, sondern wartet auf die punktuelle Trübung ihres Blickfelds.
    Nach jenem dunstigen Fleck sucht sie und findet ihn vor einer der äußeren Sicherheitstüren. Obwohl das Fragment sie vermutlich bereits bemerkt hat, nähert sie sich ihm vorsichtig. Sie weiß zu wenig über seine Zusammensetzung, den Grad seiner Stabilität, um abschätzen zu können, was ihm möglich ist, ob er durch die Wand verschwinden könnte, noch bevor sie ihn erreicht hat.
    Ihre Augen formen ein

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