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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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feines, glänzendes Gebilde, das in Bewegung gerät, als sie einen weiteren Schritt auf ihn zu macht. Hebt er den Kopf? Sieht er sie an? Sie muss entscheiden, was sie erwartet zu sehen, und sucht sich ein Gesicht in dem silbrigen Staub zusammen. Hier zwei Augen, dort der Mund, die Nase, alles auf niedriger Höhe; das Fragment scheint auf dem Boden zu sitzen oder zu knien.
    Sie blinzelt.
    Die weichen Linien werden klar und dunkel und eindeutig. Seine Haut flimmert, seine Gesichtszüge sind verwaschen, und dann erkennt sie ihn: Auf dem Boden sitzt Johann.
    Johann wohnt in ihrer Straße. Hat dort gewohnt, ermahnt sie sich, nun wohnt er nirgendwo mehr. Gesprochen haben sie nie miteinander, aber er ist ihr aufgefallen, an den Nachmittagen im Park, wenn sie ihn auf einer der Bänke sitzen sah, in der Nähe des Sees, in die Ferne blickend, so als hielte er Ausschau nach jemandem.
    Dass sie weiß, wie er heißt, verdankt sie einem Zufall. Eine Zeitlang ging sie einmal die Woche abends in ein Restaurant in ihrer Straße. Weniger, weil das Essen dort besonders gut war oder sie keine Lust hatte, selbst zu kochen, sondern vielmehr aus Trotz der Mutter gegenüber, der es nie in den Sinn gekommen wäre, alleine einen Film anzusehen oder essen zu gehen.
    Den Nachmittag über redete sie sich ein, dass sie sich bereits auf den Abend freute, im Restaurant aber war es stets dasselbe: Sobald sie an einem der abgelegenen Tische Platz genommen hatte, konnte sie sich vor Unruhe kaum auf ihrem Stuhl halten. So sehr wünschte sie sich, auf der Stelle wieder zu gehen, dass sie die Beine verknoten, die linke Wade gegen das rechte Schienbein drücken musste, um nicht aus dem Restaurant zu stürmen. Jedes Flüstern schien ein Flüstern über sie zu sein; der Fisch hatte einen eigenartigen Beigeschmack, sodass sie kaum einen Bissen herunterbekam. Einmal glaubte sie, sich an einer Gräte verschluckt zu haben und röchelnd und unter den argwöhnischen Blicken der anderen Gäste ersticken zu müssen.
    An einem dieser Abende bemerkte sie ihn. Er saß unweit entfernt, am Nachbartisch, in einer Gruppe von Freunden. Sie waren laut, sie lachten und sagten und riefen seinen Namen wieder und wieder: JohannJohann.
    Erst als sie ihn dort sitzen sah und er sie nicht anschaute, sie nicht einmal bemerkte, ging ihr auf, dass er über die Monate hinweg für sie an Bedeutung gewonnen hatte. Worin diese Bedeutung bestand, hätte sie nicht sagen können, eines nur wusste sie sicher: Er gehörte in den Park, gehörte in diese Nachmittage, als verschwiegene, zuverlässige Silhouette auf der Bank, er gehörte in ihr Leben – nicht als tatsächlicher Mensch, als Mann, über den sie schließlich kaum etwas wusste, sondern als Möglichkeit, als »Was, wenn vielleicht …?«, als »Was, wenn ich eines Tages …?«.
    Wann immer sie sich in den kommenden Monaten müde und ausgezehrt fühlte durch jene Arbeit, die sich langsam einen Weg durch ihren Körper, bis in ihre Gedanken, bis in ihre Träume fraß, die alles zurückdrängte, was sie einmal gewesen war, was sie hätte sein können, dann hielt sie sich an JohannJohann, im Haus gegenüber, am Tisch nebenan, und wie zumindest die Möglichkeit bestand, auf ihn zuzugehen, zu sagen, mein Name ist Miriam, und ihn sich zu erschließen, diesen Menschen, der in der Gruppe seiner lauten Freunde unterzugehen schien, der so leise sprach, dass sie ihn am Nachbartisch bereits nicht mehr verstehen konnte. Und vielleicht sprach sie ihn aus genau diesem Grund nie an; weil sie sich die Möglichkeit bewahren wollte.
    In der Fabrik, fern von Häusern und Tischen und Möglichkeiten, hebt Johann den Kopf und erkennt Miriam. Aber das ist nicht möglich, denkt sie. Zum einen, weil sich JohannJohann nicht wird erinnern können, an die Frau vom Nachbartisch, an den schnellen Schatten im Park, zum anderen, weil er nicht mehr Johann ist, sondern ein Fragment, ein Fragment, das sich an nichts und niemanden erinnern können sollte.
    »Entschuldigung«, sagt er und schiebt sich langsam an der Wand hoch. »Ich kenne Sie, wir kennen uns, können Sie mir helfen, bitte helfen Sie mir.«
    Sie kann ihn jetzt deutlich erkennen, und von ihm ausgehend stellt sich auch die Fabrik scharf. Als habe sich das schwere, weitläufige Gebäude nicht seit Jahren schon an Ort und Stelle befunden, scheint es jetzt, in diesem Moment, um sie herum zu wachsen, wie ein steinerner Wald, ein Labyrinth, das zwischen ihnen sprießt, sie zu seinem geheimen Zentrum macht und

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