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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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umschließt. Dies ist ein abweisender Ort, denkt sie, und keiner, an dem man sich begegnen, an dem man sich in die Augen sehen und sich wiedererkennen sollte.
    Johann
    Die Frau bewegt sich nicht. Sie sieht aus, als habe sie einen Geist gesehen, denkt er, und verzieht das Gesicht, als ihm aufgeht, dass sie tatsächlich einen Geist gesehen hat. Er ist nun der Geist. Er ist der, wegen dem man erstarrt, stockt, erschrickt. Ob sie ihn wiedererkennt? Ist es ihr überhaupt möglich, ihn wiederzuerkennen, hat sie je Notiz von ihm genommen, während sie an ihm vorbeirannte, den Blick nach innen gerichtet, so als sei sie in eine äußerst unbefriedigende Debatte mit sich selbst vertieft?
    Er schluckt. »Ich bin nicht … Ich will nicht …«, setzt er an und weiß nicht weiter. »Bitte, können Sie mich hier wegbringen?«, fragt er schließlich.
    Sie antwortet nicht. Vielleicht kann sie ihn zwar sehen, aber nicht hören. Er bemüht sich, lauter zu sprechen. »Können Sie mir helfen? Ich habe in Ihrer Straße gewohnt, erinnern Sie sich an mich?«
    Die Frau bewegt sich auch weiterhin nicht.
    »Ich kann nicht …«, setzt sie schließlich an und bricht ab, genau wie er zuvor. Dann hebt sie die Hände.
    In dem Moment sieht er den Spiritoapparat.
    Miriam
    Er spricht mit ihr.
    Es spricht mit ihr.
    Sie könnte, denkt sie und ihr Mund ist trocken, sie könnte vorgeben, ihn nicht zu hören, könnte vorgeben, ihn nicht zu sehen. Sie könnte mit einer raschen Handbewegung den Spiritoapparat anstellen, die Linse auf ihn richten und abdrücken. Sie könnte sich umdrehen, die Beine in die Hand nehmen, so schnell wie möglich aus der Fabrik rennen und nie wieder zurückkehren.
    Das sind ihre Möglichkeiten.
    Doch bevor sie Gelegenheit hat, sich für eine von ihnen zu entscheiden, nimmt etwas seinen Lauf, in ihrem Brustkorb, in der Schwingung ihrer Stimmbänder, im Kehlkopf.
    »Ich kann nicht …«, beginnt sie und bricht ab und starrt ihn weiter an, und weiß nicht, ob ihr Aufeinandertreffen eine Fügung ist oder ein Scherz, Zufall oder die Art von Schicksal, an die sie nicht glaubt. Ist es eine Probe, ist es ein Test? Ist sie hier, um ihn zu retten, oder ist er hier, um sie zu retten?
    »Ich weiß nicht …«, stammelt sie.
    Und wie schon vor einigen Sekunden beginnt ihr Brustkorb sich schwer zu heben und zu senken, geht ihr Atem stoßweise, und mit jedem Stoß löst sich etwas, mit jedem Atemzug gibt Miriam etwas frei. Nicht Luft, sondern eine Substanz von unvorstellbarer Schwere verlässt ihren Körper. Sie schwankt, ein, zwei Sekunden. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat, setzt sie den Spiritoapparat ab.
    »Du bist Johann«, sagt sie.
    Piet
    Schon bevor der erste Monitor ausfällt, ahnen sie, dass etwas nicht stimmt. Sie beobachten, wie Miriam Miles sich einer der Sicherheitstüren nähert und stehen bleibt.
    »Sie hat ihn«, sagt Marvin.
    Eine Weile schaut Miriam in die Leere, die ihr keine Leere ist, dann stellt sie den Spiritoapparat ab.
    »Was tut sie?«, fragt Marvin.
    Beide Männer starren die Monitore an.
    »Redet sie mit ihm?«, fragt Piet unsicher.
    Plötzlich dreht sie den Kopf und sieht sie an. Ihre Lippen bewegen sich. Es scheint, als ob sie mit dem Fragment sprechen würde, denkt Piet und verwirft den Gedanken gleich wieder.
    »Wir sollten …«, setzt Marvin an, als mit einem Mal der Monitor schwarz wird. Innerhalb weniger Sekunden erlöschen weitere Bildschirme, bis die gesamte Reihe ausgefallen ist.
    »Sie schaltet die Kameras aus«, sagt Marvin. Er schüttelt den Kopf und dreht sich zu Piet um. »Jetzt müssen wir den Vorsteher anrufen.«
    Piet lässt sich in seinen Stuhl fallen.
    »Vielleicht hat es nichts zu bedeuten«, schlägt er zögernd vor, doch bevor er fortfahren kann, Marvin ein weiteres Mal den Anruf beim Vorsteher auszureden, hebt der die Hand.
    »Piet. Das ist mein Ernst«, sagt er.
    Piet nickt matt, spürt, wie ihn die Enttäuschung immer tiefer in den Stuhl drückt. Er wird seinen Plan verwerfen müssen, wird noch einen ganzen Monat jeden Abend in der Fabrik erscheinen und auf die nächste Fragmentlieferung warten müssen. Heute Nacht wird nichts und niemand freigesetzt.
    »Wir können froh sein, wenn wir keine Verwarnung bekommen«, sagt Marvin und greift zum Telefon. Seine Finger zittern, als er die Nummer wählt.
    Wo auch immer der Vorsteher sich aufgehalten hat, auf den Anruf hin scheint er in die Fabrik geflogen zu sein, denn weniger als eine Viertelstunde vergeht, bevor sie seine schweren

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