Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
verlassen, kann sie ihn schlecht mit in ihr Haus nehmen, durch die Keller spuken lassen und über den Dachboden.
Sie laufen schon eine Weile durch das schier endlose Treppenhaus, als Miriam der Drang überkommt, sich nach ihm umzudrehen. Das Gefühl ist so stark, dass ihr Nacken und ihre Schultern schmerzen, als sie dagegen ankämpft. Sie kann ihn nicht hören, weder seinen Atem noch seine Schritte auf den Stufen. Erst als sie das obere Ende der Treppen erreicht haben, verebbt das Gefühl, doch noch immer scheint es ihr sicherer, sich nicht nach ihm umzudrehen, sich darauf zu verlassen, dass er ihr folgt.
Sie kommen schnell voran, weil Miriam sich in dieser Geisterfabrik, genau wie in jeder anderen, gut auskennt. Die Fabriken sind alle nach demselben Muster, demselben Plan gebaut. Während ihrer Ausbildung hat Miriam sich die Baupläne eingeprägt, sie jede Nacht aus Nichts und Dunkelheit zusammengesetzt. Inzwischen sind sie ihr auf die Netzhäute gebrannt, sodass sie nur die Augen schließen muss, um sie vor sich zu sehen. Und weil sie mit den Gedanken ganz bei den Plänen ist, und weil sie noch immer lauscht auf Johanns ausbleibende Schritte hinter ihr, sieht sie ihn erst, als es beinahe zu spät ist. Er steht in der Mitte des Ganges, als sei er in dem Fundament der Fabrik verwurzelt, wirkt leblos wie Beton oder Stein. Noch ist er zu weit entfernt, als dass sie sein Gesicht sehen könnte, aber sie erkennt an seiner Uniform, dass er keiner der Ghostmanager ist und nicht zu den Reinigungskräften gehört.
Im selben Augenblick, da Miriam ihn bemerkt, läuft der Mann los. Er scheint sich ihnen nicht mit Schritten zu nähern, sondern durch ein sprunghaftes Rucken seines Körpers, das ihn immer schneller, immer näher an sie heranbringt. Miriam dreht sich um, rennt los und reißt Johann mit sich. Stufe um Stufe geht es zurück, und weiter: vorbei an der roten Sicherheitstür, vorbei am Konservierungsraum. Unterdessen versucht Miriam vergeblich, sich an einen geheimen Ausgang, eine unvermutete Abkürzung zu erinnern. Schwer atmend bleibt sie stehen, als ihr die Schächte einfallen.
»Wir müssen es über die Schächte versuchen«, sagt sie zu Johann. »Anders kommen wir nicht an ihm vorbei. Schaffst du es dort hinauf?« Sie deutet auf eine Klappe in der Decke.
Er peilt die Klappe an, nickt kurz, und beginnt, sich ihr entgegenzustrecken. Zunächst glaubt Miriam, er wachse der Decke entgegen, ziehe sich selbst Stück für Stück in die Länge, dann erst sieht sie, wie sich der Abstand zwischen dem Boden und seinen Füßen kaum merklich vergrößert. Oben angelangt nestelt er an dem Hebel, der die Klappe verschlossen hält. Er braucht einige Versuche, bis es ihm gelingt, den Hebel zu lösen. Die Klappe schwingt geräuschlos auf. Für ein paar Sekunden verschwindet er im Dunkel über ihr, bevor sein Gesicht wieder in der Schachtöffnung auftaucht. »Soll ich dich hochziehen?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf, spannt jeden Muskel an und federt sich ab. Ihre Finger bekommen den Rand der Luke zu fassen, und sie zieht sich hoch.
Die Decke im Schacht ist so niedrig, dass sie sich nicht aufrichten kann. Um überhaupt vorwärtszukommen, muss sie kriechen. Mit jedem Aufsetzen ihrer Knie und Hände hinterlässt sie eine Klangspur dumpfer Schläge, während Johann vollkommen geräuschlos hinter ihr durch den Schacht schwebt.
Er wird uns finden, denkt sie, und noch bevor sie den Gedanken ganz erfasst hat, spürt sie ihn, im Gang unmittelbar unter ihnen. Mühsam hebt sie die rechte Hand, das linke Knie; mit einem Mal ist ihr, als hielten sie unsichtbare Kräfte zurück, spinnwebfeine Fäden, für das Auge nicht zu sehen, doch unnachgiebig wie Drahtseile. Miriam kommt kaum mehr von der Stelle, bis sie vor Anstrengung innehält, in die Stille lauscht und sich fragt, was nun geschehen wird.
Johann
Johann weiß: Der Mann, den er nur einige Sekunden gesehen hat, ist ihnen auf den Fersen. Johann weiß auch, dass es in dieser Welt, der er kaum noch angehört, für ihn nichts mehr zu fürchten gibt. Doch ein Funken von Miriams Angst muss auf ihn übergesprungen sein. Vorhin, als sie ihn fand, aufspürte in dem Gang, und auch schon früher, als sie ihm nicht mehr war als eine Fremde im Park, da schien es ihm, als könne sie nichts schrecken, als sei sie frei von Furcht. Jetzt zittern ihre Schultern, und ihre Augen sind weit geöffnet.
»Es hat keinen Sinn«, sagt sie, wohl mehr zu sich selbst als zu ihm. »Er ist viel schneller als
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