Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
prallt gegen den Container, und als der Container sich in seinen Rücken bohrt, da ist es, als stoße er etwas in Piet an. Seine Gedanken und Überlegungen, seine Pläne und Ängste, seine Zweifel und Vorhaben geraten ins Wanken, überschlagen sich und ordnen sich neu. Und zum ersten Mal, seitdem er in seinen Kalender ein kleines schwarzes Kreuz setzte, zum ersten Mal seitdem er in der Fabrik arbeitet, zum ersten Mal ergibt alles einen außer Frage stehenden, einen vollständigen, allumfassenden Sinn. Er weiß, so sicher, wie er noch nie zuvor etwas gewusst hat, warum er sich zu dieser Zeit an diesem Ort befindet, warum er steht, wo er steht. Er dreht sich um, dem Wagen mit den dreihundert fest verschlossenen Containern zu. Als er auf den Knopf drückt, rechnet er mit einem Heulen, einem schrillen Alarm, die Zylinder aber öffnen sich geräuschlos, ein Deckel nach dem nächsten gleitet zur Seite, und sie geben ihren Inhalt frei.
Johann
Der Raum füllt sich mit unzähligen Flügelschlägen, mit funkelndem Staub. Johann spürt, wie er von Miriam fortgezogen wird, spürt es bis in die Knochen. Das Gefühl ist kein schmerzhaftes, aber es ist anders als alles, was er je zuvor erlebt, je gefühlt oder gedacht hat. Und als er sich Miriams Gesicht einprägt, als er sie zum letzten Mal ansieht, da denkt er, dass ihm nichts so vertraut ist wie diese Fremde, die unvorstellbar, die unbegreiflich ist.
Er gehört ihr.
Miriam
Miriam spürt, wie Johanns Hand ihr entgleitet. Etwas nimmt seinen Lauf. Es ist zu groß für alle Worte, sprengt sie und lässt nur leere Hüllen zurück. Sie presst sich die Hände auf die Ohren. Noch sieht sie die Geister, wie sie durch den Gang schwebend ihre Grenzen verlieren und ineinander übergehen. Sie streichen über ihr Gesicht und durch ihr Haar. Ihr Wispern steigt an, es rauscht und raunt wie das Meer, es flutet sie, es nimmt sie zu sich. Ein letztes Mal sucht und findet sie Johann, etwas schließt sich, fügt sich zusammen, und sie gibt ihn frei.
Miriam stößt die Tür auf und tritt in den Vorhof. Noch ist die Luft hier draußen klar, doch durch die weit geöffnete Tür in ihrem Rücken schiebt sich bereits ein Wolkenmeer ins Freie, steigt als dichter, schwerer Nebel auf. Dann erfasst sie der erste Schwall Spiritmaterie, und er lässt sie zurückdenken an einen nebeligen Nachmittag im Spätherbst, als sie sich in dem Waldstück hinter dem Park verlaufen hatte. Die Welt, die sie kannte, in der sie sich jeden Tag bewegte, war nur wenige hundert Meter entfernt, und trotzdem war Miriam sicher, nie wieder dorthin zurückzufinden. Die Spiritmaterie dringt in ihre Lungen, in ihr Herz und in ihren Kopf, wo sie sich ihrer Gedanken und Erinnerungen annimmt und sie sich zu eigen macht.
Sie zittert. Ich komme mir abhanden, denkt sie, ich werde mir genommen, sie fühlt sich weit fortgetragen von dem Ort, an dem sie sich befindet, und allen Orten, an denen sie sich je befunden hat, fort von ihrer Kindheit, ihrer Mutter, allen Menschen, die sie gekannt hat, die ihr vertraut sind, und fort von Johann und fort von einer Zukunft, und jeder möglichen Zukunft, allem, was hätte sein können. Es nimmt ihr all das, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft, Johann und sich selbst. Und als es sie durchdrungen hat, glaubt sie, in der Spiritmaterie zergehen zu müssen, in myriaden Partikel zu zersplittern.
Doch Miriam vergeht nicht, Miriam gewinnt ihren Körper zurück, spürt ein Ziehen zwischen den Schulterblättern, ihre Fingernägel, die sich in die Innenflächen der zusammengeballten Hände bohren, ihre Füße in den schweren Schuhen und wie sie die Fersen fest in den Boden stemmt.
Sie spannt die Muskeln an, zählt hoch bis zur Fünf und wieder zurück, dann läuft sie los, durch das Wolkenmeer und über den Hof, bis zur der Tür, durch die sie ins Freie tritt.
Sie wird nie mehr hierher zurückkommen.
Sie wird jetzt auf ihn warten.
IV
HIER
In unserer Geschichte gibt es keine Luftschiffe, keine Engel, es gibt niemanden, der fliegt, niemanden, der durch Wände geht, keine Städte werden zerstört und keine erobert. Fremde Länder werden nicht durchwandert, keiner berührt den Mond oder die Sterne, keiner reist bis zum Rand der Welt oder kehrt von den Toten zurück.
Es wird nicht gekämpft und nicht gerannt, es wird nicht geschwommen, es gibt keine Hunde, keine Wölfe, keine Fledermäuse, keine Schwerter, keinen Tank, keinen Schacht, kein Schiff, keine Karten, keinen Turm.
Es gibt mich.
Und es
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