Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
ich. Er muss bloß immer weiter unter uns herlaufen und warten, bis wir irgendwann aus dem Schacht kommen.«
»Und wenn wir umdrehen?«
»Ich bin zu laut. Er weiß, wo wir sind.«
Nach einer Weile kriecht sie weiter, mühsam und wie gegen einen Widerstand. Er beobachtet sie genau: Es wirkt, als ob tausend kleine Hände sie zurückschöben, sie sich jeden Zentimeter, den sie sich vorwärtsbewegt, erkämpfen muss. Wiederholt hält sie inne.
Nach einer Weile teilt sich der Schacht vor ihnen. Während der eine Arm weiter in der Waagerechten verläuft, knickt der andere nach oben ab. Miriam leuchtet mit einer Taschenlampe hinauf.
»Wenn wir zum Ausgang wollen, müssen wir weiter nach oben. Außerdem wären wir so schneller als er. Vielleicht kann ich klettern.«
Doch ihre Versuche, sich gegen die Schachtwände zu stemmen und hinaufzuklettern, misslingen, immer wieder rutschen ihre feuchten Handflächen an den glatten Innenwänden ab, bis sie schließlich vollends den Halt verliert und stürzt.
»Ich komme dort nicht hoch«, flüstert sie. »Es geht nicht.«
Er rückt näher an sie heran. »Versuch es noch einmal«, drängt er.
Unsicher reibt sie ihre linke Schulter. Sie muss sie sich beim Sturz verletzt haben. Dann richtet sie sich langsam auf, legt die Hände ein weiteres Mal an die Wände.
Er schließt die Augen, stellt sich vor, aus unendlich vielen lose verknüpften Punkten zu bestehen. Seiner eindeutigen Form enthoben, wird er zum Netz, zum Feld, das sich Miriam nähert, sie zunächst umfängt. Der Abstand zwischen ihnen schwindet, bis er keiner mehr ist und Johann sich vermengt mit jenen kleinsten der kleinen Teilchen, aus welchen Miriam sich zusammensetzt. Miriam öffnet den Mund, vielleicht um »Nein« zu sagen oder »Halt«, die Worte aber bleiben stecken. Und dann bewegt sich etwas in ihr. Ihr Herz schlägt jetzt schneller, es schlägt für zwei, und Johann blickt durch ihre Augen und hört mit ihren Ohren. Miriams Füße lösen sich vom Boden, sie ist leicht, schwerelos und steigt auf, entfernt sich von dem dunklen, schweren Zentrum der Fabrik.
Erst als Miriam wieder festen Boden unter den Füßen hat, lässt er sie los, zieht sich zurück und gibt sie frei. Sie atmet lange aus.
Keiner der beiden spricht. Stillschweigend einigen sie sich darauf, kein Wort darüber zu verlieren, dass sie vor wenigen Sekunden und für einen kurzen Moment eins waren.
Miriam
Ihr ist nicht länger heiß. Ihre Arme und Beine zittern, ihr Körper ist in Aufruhr, seine Grenzen wurden gesprengt. Während sie durch den Schacht kriecht, will sie etwas zu Johann sagen, auch während sie sich durch die Luke fallen lässt und nachdem sie wieder im Gang steht. Nur was? »Wir sind fast beim Ausgang«, sagt sie schließlich.
Sie glaubt, dass Jonathan nickt, doch unter den flackernden Lampen sieht er merkwürdig ungenau aus, seine Umrisse sind ausgefranst, als vermenge er sich mit der Luft. Um ihn nicht zu beunruhigen, verlangsamt sie ihre Schritte unauffällig. Was, wenn es stimmt und er außerhalb der Fabrik in Millionen feinste Körnchen zerspringt?
Sie laufen weiter, und Miriam verliert sich in dem Schachbrettmuster des Bodens, vergisst sich über die genaue Anordnung der Fliesen: Schwarz und Weiß und Schwarz. Erst als sie gegen Johann stößt, schaut sie erschrocken auf. Unmittelbar vor ihnen liegt der Ausgang. Vor dem Ausgang aber steht einer der beiden Ghostmanager. In seiner Hand hält er eine Waffe.
»St-opp«, sagt er, und in der Mitte des Wortes bricht seine Stimme. »Stehen bleiben?«, fügt er in fragendem Ton hinzu.
Und alle drei stehen. Niemand hebt einen Arm oder macht einen Schritt. Miriam hört eine Bewegung in ihrem Rücken. Sie muss den Kopf nicht drehen, um zu wissen, dass der Vorsteher sich langsam nähert, gemächlich die Stufen hinaufsteigt. Es gibt keinen Grund mehr zur Eile.
Piet
Piets Beine zittern, als er die Waffe hält. Vor ihm befinden sich die Flüchtenden, hinter ihm die fast dreihundert Container der gerade eingetroffenen Lieferung.
Die Spiritographin zieht einen Mann hinter sich her. Auf seinem Gesicht liegt ein verschreckter, benommener Ausdruck. Was hat der Mann in der Fabrik zu suchen? Wie ist er hierhergekommen? Er sieht ungesund aus, so blass, dass er durchscheinend wirkt. Und dann versteht Piet: Der Mann ihm gegenüber ist kein Mann, ist kein Mensch. Und Piet sollte ihn nicht sehen können.
»Wieso …?«, setzt er an und weiß nicht weiter. Er weicht einen Schritt zurück und
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