Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
Vom Netzwerk:
zuckenden Gliedmaßen, mit dem vorgeschobenen Becken zu sein: Du warst sie. Und auch nachdem das Theater sich geleert hatte, nachdem Charcot und die anderen Ärzte nach Hause gegangen waren, bliebst du noch immer die Dienstags-Augustine, mit zitternden Händen und Schwindel im Kopf.
    Den Nachmittag verbringt Jacques nicht in seinem Zimmer, sondern auf dem Flur. Er hofft, von Augustine gefunden zu werden. Augustine aber fällt heute vor großem Publikum César zu Füßen, und Jacques wartet vergebens. Gerade als er beschließt, seinen Platz hinter den Fenstern aufzugeben, bemerkt er etwas. Mitten auf dem Hof und ohne dass er sie hat vorfahren sehen, steht eine Kutsche. Sie ist groß, sie ist schwarz, sie unterscheidet sich durch nichts von allen anderen großen, schwarzen Kutschen des Landes. Trotzdem ist er sicher, hat er keinen Zweifel, dass es sich bei dem Gefährt dort draußen um dieselbe Kutsche handelt, die schon einmal seinen Weg kreuzte. Und von dem Anblick der teerschwarzen Kiste inmitten des Schnees wird ihm schlecht, wird ihm schwindelig. Er schwitzt, er friert, lehnt die Stirn gegen das feuchte Glas und wartet, bis eine der Schwestern ihn entdeckt und zurück auf sein Zimmer führt.
    *
    Du hörst Gerüchte von einem neuen Arzt. Du willst mehr über ihn herausfinden und versuchst, die Schwestern zu belauschen, aber wann immer du dich anschleichst, hören sie mit dem Flüstern und Wispern auf. Bisher ist es dir nicht einmal gelungen, seinen Namen herauszufinden, und weil du ihn noch nie mit eigenen Augen gesehen hast, bist du nicht vollends überzeugt, dass es ihn tatsächlich gibt.
    »Doch«, sagt Philippa, deine einzige Freundin hier. »Ich habe ihn gesehen.«
    »Und?«, fragst du.
    Mit deinem strengen Blick bringst du nicht nur Mme. Couronne, sondern auch fast jeden anderen zum Reden. Philippa verschachtelt die Hände, schaut zur Tür und wieder zu dir. »Geh ihm aus dem Weg.«
    Bevor du weitere Fragen stellen kannst, läuft sie an dir vorbei und aus dem Zimmer. Beim Durchschreiten der Tür schüttelt sie sich kurz, so als gelte es, deine Frage abzustreifen, oder deinen Blick oder jedes Wort, das sie über den Arzt ohne Namen gesprochen hat.
    Als hättest du ihm mit deinen neugierigen Fragen eine Tür geöffnet, begegnest du dem neuen Arzt noch am selben Tag auf dem längsten Gang der Salpêtrière. Im gleichen Augenblick und an entgegengesetzten Enden betretet ihr den Flur. Der Mann ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und obwohl er nicht von draußen kommt, trägt er einen Mantel über dem Anzug. Die obere Hälfte seines Gesichts, Augen und Nase, ist von einer Maske bedeckt. Du schließt die Augen, öffnest sie wieder: Die Maske hat sich nicht zur Brille gewandelt oder sich als irreführendes Schattenspiel herausgestellt. Obwohl du nicht jeden Arzt hier kennst, nicht alle Patienten und sicher nicht das ganze Personal, bist du sicher, dass es sich bei dem Mann um den neuen Arzt handelt. Und auch wenn dich das Verlangen überkommt, dich schnellstmöglich, dich weitestmöglich von ihm zu entfernen, tragen deine Beine dich weiter auf ihn zu. Du versuchst, wenigstens den Kopf zu senken oder zur Seite zu drehen. Die Erkenntnis, dass du ihm nicht in die Augen schauen darfst, durchfährt dich so unvermittelt wie der Wunsch, vor ihm davonzulaufen, und deine Augen gehorchen dir so wenig wie deine Beine. Du starrst weiter, denkst an Maskenbälle und Vögel in den Farben der Nacht: Krähen und Raben. Die Temperaturen fallen, nein, stürzen; ein kalter Windstoß erfasst dich, fegt nicht an dir vorbei, sondern durch dich hindurch. Der Arzt bewegt sich schneller und langsamer, als du je einen Menschen sich hast bewegen sehen. Oder warte, vielleicht bewegt er sich weder besonders schnell, noch besonders langsam, sondern jenseits aller Geschwindigkeiten. Die Zeit friert um ihn, zersetzt sich und zerfällt in einzelne Bilder: Das erste zeigt ihn in der Ferne, das zweite hat ihn bis auf wenige Schritte an dich herangebracht, und auf dem dritten ist er so nah, dass er dich streift. Er dreht dir sein Gesicht zu, und in der gesplitterten Sekunde, bevor es dir endlich gelingt, dich abzuwenden, schaust du nicht in Augen, nicht in Pupillen, sondern in Schächte, in Löcher, in Meere aus Teer.
    Später auf deinem Zimmer zitterst du, als hätte man dich in ein Eisbad getaucht. Auf deinem Bett sitzend, trocknest du dein Haar – es ist nass, obwohl du nicht durch den Regen draußen gelaufen bist. Philippa sieht dich an,

Weitere Kostenlose Bücher