Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Wochen nach dem Unfall. Es war etwas anderes, das nicht mehr zusammenwachsen wollte. Bald spielte sein linker Arm verrückt, dann das linke Bein, Jacques’ eine Hälfte entschloss sich, eigene Wege zu gehen. Ein Glück, dass Jacques’ Vater Arzt war, nicht gerade ein zweiter César, aber immerhin einer, der sich neuen Erkenntnissen nicht verschloss. Das nervöse Leiden, von dem der eigene Sohn so plötzlich betroffen war ( so plötzlich , hieß es nun, denn gemeinschaftlich hatte man vergessen, dass schon immer etwas nicht gestimmt hatte, etwas sonderbar gewesen war an diesem Kind, das vor allem Angst hatte, sogar vor den Wolken, sogar vor den Kirchglocken, vor dem Klirren zerbrechenden Glases), das nervöse Leiden war ein Leiden, von dem nur wenige Männer betroffen waren. Lange war man davon ausgegangen, es stünde in direktem Zusammenhang mit der besonderen Machart des weiblichen Körpers, einer delikaten physischen Ausrichtung. Nun war man aber nicht erst seit Fällen wie Jacques’ zu dem Schluss gekommen, dass wandernde Geschlechtsorgane allein für die Krankheit nicht verantwortlich sein könnten. Jacques’ Vater wandte sich an einen Arzt, der sich an einen Arzt wandte, der sich an einen anderen Arzt wandte, und über viele Ärzte gelangte man zwar nicht zu Charcot selbst, jedoch zu Georges Gilles de la Tourette, und war so immerhin schon in der Salpêtrière angekommen. Tourette untersuchte Jacques und bestätigte, was die Eltern befürchtet und gehofft hatten – der Mann litt an hysterischen Zuständen. Man einigte sich auf einen konkreten Auslöser, ein spezifisches Ereignis (die Kutsche), das für Jacques’ momentane Misere verantwortlich sei. Nun gelte es, die Folgen des Unfalls zu behandeln, Jacques’ natürliche Balance wiederherzustellen. Der Vater nickte, die Mutter nickte. Jacques nickte. Tatsächlich aber glaubte keiner der drei an die verloren gegangene Balance oder ihre mögliche Wiederherstellung. Sie wussten: Der Junge war mit Schatten im Schädel zur Welt gekommen.
Seitdem Jacques hier ist, erwartet niemand mehr, dass er sich zusammenreißt. Dieser Ort versammelt per Definition all die, die immer dann auseinanderfallen, wenn sie keiner fest- und zusammenhält. Jacques weiß: An dem Tag, an dem er die Salpêtrière verlässt, wird er sich auch wieder zusammenreißen müssen. Auf seine Entlassung wird die unmittelbare Aufnahme in jenen geheimen Vertrag erfolgen, der vorsieht, dass man nicht auf offener Straße, auf dem Marktplatz, in einem Park, vor Hunderten Augenpaaren zu Boden geht und weint, schreit, protestiert. »Wie macht ihr das?«, hat Jacques von den Eltern wissen wollen, von den Freunden, von den Nachbarn und Fremden auf der Straße auch. Aber keiner konnte antworten, sie verstanden nicht einmal die Frage. Dabei liegt es doch auf der Hand: Er will verstehen, wie es den Menschen gelingt, ganz selbstverständlich und mit bestimmten Schritten durch die Straßen zu schreiten, während er stets balancieren muss, wie auf einem Seil, rechts von ihm der Abgrund und links von ihm der Abgrund. Was braucht es, um all das nicht zu sehen: die Krankheiten, die Katastrophen, den Tod, der uns bevorsteht, unser Verschwinden und das aller, die wir lieben. Und das Ende ist wie der Anfang, es ist immer da. Aus welchem Stoff muss man gemacht sein, damit einen dieser Gedanke nicht porös werden lässt? Hier drinnen wundert es keinen, wenn man stehen bleiben muss, weil sich von einer Sekunde auf die nächste Risse durch die Kacheln ziehen. Es wundert keinen, wenn man stundenlang auf einer Bank sitzt und sich nicht rühren kann, nicht einmal den kleinen Finger. Zwar weiß Jacques nicht, was die Ärzte sich davon erhoffen, seinen Körper auf unsichtbare Druckstellen hin abzutasten, über den Zustand seiner Organe zu rätseln und seinen Schädel zu vermessen, aber auf Heilunghat er ohnehin nie gehofft; bloß auf eine Unterbrechung, eine vorrübergehende Stillstellung der Angst. Nun hört er von einem Arzt, der alles und jeden zu richten vermag. Und zum ersten Mal überhaupt fragt er sich, ob ihn nicht vielleicht doch einer von der Welt heilen kann.
Wie so oft in letzter Zeit steht Jacques hinter den Fenstern und schaut in den Hof hinunter. Auch überall sonst kann er das Glas zwischen sich und der Welt spüren. Hier oben lässt sich die Scheibe wenigstens anfassen, ist sie nicht bloß im Kopf. Dieses Mal betrachtet er nicht den neuen Arzt, sondern dich, Augustine. Es gefällt ihm, dass die Rollen einmal
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