Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
wie es sonst nur die Ärzte tun; als seist du ein Rätsel, als gäbe es etwas zu entdecken, zwischen deinen Augenbrauen, in deinen Mundwinkeln. Dann erklärt sie dir, vielleicht zum vierten, vielleicht zum fünften Mal, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Der neue Arzt ist nicht wegen der Frauen hier. Er gilt als Spezialist, als Koryphäe für männliche Hysterie und wird ausschließlich männliche Patienten behandeln. Philippas Worte ziehen an dir vorbei. Du stehst auf, läufst zum Fenster und wieder zurück, versuchst dabei, Wärme in deine Arme zu reiben. Aber erst heute Abend, wenn du schon lange im Bett gelegen haben wirst, werden deine Unterarme, deine Waden, deine Zehen und Finger prickeln, als ob jemand Hitze in sie hineinsticken würde.
Schon vor deinem Gespräch mit Philippa hast du gewusst, dass du selbst nie im Behandlungszimmer des Arztes sitzen wirst. Nicht um dich selbst machst du dir Sorgen, sondern um Jacques. Denn noch bevor du ihn auf dem Gang begegnetest, ja schon, als du das erste Mal von einem neuen Arzt hörtest, da musstest du an Jacques denken. So, wie du an die Nacht denkst, wenn jemand dir vom Tag erzählt.
Philippa redet weiter auf dich ein, aber du hörst ihr nicht zu, du hast keine Zeit zu verlieren, du musst Jacques finden, musst von dem neuen Arzt erzählen, auch wenn du nicht sicher bist, was. Du drängst an ihr vorbei aus dem Zimmer. Auf der Suche nach Jacques hastest du durch die Gänge, trittst auf den Saum deines Kleides, stolperst und fällst. Wenn es nach dir ginge, würdest du rennen, die Treppen hinauf- und hinunterfliegen, aber Mme. Couronne fängt dich ein, packt dich am Arm und teilt dir mit, dass du Jacques erst am Nachmittag wirst sehen dürfen. Du setzt dich auf die Bank und beißt in deine rechte Hand. Zumindest für ein paar Sekunden kannst du die Ungeduld so bezwingen, der Trick aber hält nie besonders lange vor. Als Jacques endlich auftaucht, hast du mit deinen Zähnen die Haut um die Fingernägel in Streifen abgezogen. Du versteckst die Hände hinter dem Rücken und wartest, bis Jacques sich gesetzt hat.
»Ich gehe weg«, sagst du.
»Kannst du doch gar nicht«, sagt er mit einer Stimme ohne Höhen und Tiefen und so, als würde ihn das nicht weiter interessieren.
»Doch«, behauptest du. »Wenn du willst, nehme ich dich mit.«
»Und wieso bist du dann noch hier?«, fragt er.
»Ich weiß nicht, wohin ich soll«, sagst du (und das stimmt). »Nach Hause sicher nicht.« (Auch das stimmt.)
»Du kannst jedenfalls nicht einfach gehen.«
»Doch«, sagst du, und dass dich keiner zwingen kann zu bleiben, wenn du nicht willst.
Jacques sagt nichts. Dir ist aufgefallen: Zwischen den Sätzen, manchmal auch mittendrin, legt er so lange Pausen ein, dass man fürchten muss, er sei eingeschlafen oder auf seinen Gedankenpferden davongaloppiert. Du lehnst dich zurück und wartest.
»Und wieso jetzt?«, fragt er endlich.
Wieso jetzt, Augustine? Seit über einem Jahr bist du hier, und die Welt dort draußen ist zum Traum, zum Märchen geworden. Sie kommt dir wie eine unwahrscheinliche Geschichte vor; und du liebst Geschichten, besonders dann, wenn sie unwahrscheinlich sind. Aber würdest du hier sitzen und von Ausbrüchen und Aufbrüchen reden, wenn du nicht vom Arzt ohne Namen gestreift worden wärst?
»Weil ich dich gefunden habe!«, sagst du, beugst dich vor und stützt dich mit der rechten Hand auf seinem Bein ab, als müsstest du nur näher an ihn herankommen, damit er dir glaubt. Er zuckt zurück, und du hebst schnell die Hände, als wolltest du dich ergeben. »Bitte komm mit!«, sagst du und rutschst wieder näher an ihn heran.
Er wendet dir das Gesicht zu, mustert dich lange und gründlich, und du wartest, dass etwas geschieht, in ihm oder zwischen euch, dass er dich erkennt wie schon einmal. Doch er runzelt bloß die Stirn, steht auf und läuft los. Dabei zieht er das linke Bein nach und tastet sich an der Wand entlang. Du springst auf und holst ihn nach ein paar Schritten ein. Als er sich an dir vorbeischieben will, nimmst du seine Hand, die nutzlose linke, sie ist kalt und trocken.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragst du.
»Bald wird es mir besser gehen«, sagt er, statt zu antworten, und nickt den leeren Gang hinunter. »Hier gibt es einen neuen Arzt, der kennt sich aus, mit allen Krankheiten. Er kann jeden heilen.«
Heftig schüttelst du den Kopf. Der neue Arzt wird Jacques nicht heilen, davon bist du überzeugt. Wenn du nur wüsstest, wie du auch
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