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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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die Handballen in die Augenhöhlen und hoffst, dass du dich durch den Schmerz nicht mehr denken hörst, tatsächlich aber verstehst du dich noch ganz genau.
    An diesem Tag, es ist ein Mittwoch, fühlst du dich mutig. Die Dienstagsvorlesung liegt nicht einmal zwanzig Stunden zurück, und du trägst noch jene andere Frau, die Augustine aus dem Vorlesungstheater, in dir.
    Du drückst dich in den Gängen herum, bis du Jacques findest. Er steht vor den großen Fenstern im ersten Stock und blickt hinunter, als beobachte er jemanden. Als du näher an die Fenster trittst, siehst du, dass sich niemand außer den Krähen im Hof aufhält. Stück für Stück rückst du näher an ihn heran. Du kannst tun, du kannst sagen, was du willst, denn du schickst nun deinen geheimen Zwilling vor, und als du sprichst, ist deine Stimme laut und sicher.
    »Du bist Jacques«, sagst du, als sei er die Berühmtheit und nicht du, als hättest du schon viel von ihm gehört.
    Er nickt, wird rot, als sei sein Name eine Peinlichkeit, ein Geheimnis.
    »Ja«, sagt er.
    Und obwohl du weißt, dass er deinen Namen bereits kennen muss, dass die anderen Patienten sicher über dich gesprochen haben, bewundernd oder verächtlich, dass sie hier alle immerzu über dich sprechen, streckst du eine Hand aus.
    »Ich bin Augustine«, sagst du.
    *
    Wenn du nicht weißt, wo Jacques sich aufhält, was er tut, mit wem er spricht, rennen tausend Ameisen durch deine Arme und Beine, tausend Ameisen, die dich aufspringen lassen. Trotz des Schnees hastest du über den verlassenen Hof, du scheuchst die Vögel auf, du ziehst den anderen Patienten Grimassen, habt ihr Jacques gesehen, wisst ihr wo Jacques ist?, treppauf, treppab, von einem Flügel in den nächsten.
    Du wirst unvorsichtig. Man schätzt dich hier wegen deines Körpers und wie gut du ihn im Griff hast, oder eher: wie gut du vorgibst, ihn nicht im Griff zu haben. Trotzdem ist dies ein Ort der Regeln, und auch deine Regelbrüche sind diesen unterworfen. Hin und wieder darfst du dich neben Jacques auf eine Bank setzen, dürft ihr im Hof eure Runden drehen, aber ihr solltet es nicht gleich übertreiben. Aus gutem Grund gibt es einen Flügel für die Männer und einen für die Frauen. Die Symptome dürfen nicht abfärben; wie sonst soll man ihre Krankheiten voneinander unterscheiden? In der Dienstagsvorlesung führt man euch zusammen, wie bei einer kontrollierten Explosion, und beobachtet auf Césars Anweisung hin Folgendes: Stellt man einen Mann, sagen wir J., in die Mitte des Auditoriums und eine Frau, sagen wir A. oder M., neben ihn, und sie sieht, wie des Patienten linkes Bein zuckt, seine rechte Hand zu zittern beginnt, dann wird ihr Körper wie ohne ihr Zutun dieselben Symptome hervorbringen.
    Schon den ganzen Tag über spürst du eine diffuse Unruhe. Das bist du bereits gewöhnt. Deine Krankheit ist wie ein Nebel, nicht recht greifbar, etwas undurchsichtig. Einmal pro Woche aber kommt sie zum Punkt, kulminiert im von César erschöpfend dokumentierten hysterischen Anfall.
    Über den Anfall gibt es Folgendes zu sagen: Die Frauen mögen unterschiedlich sein (braunes Haar, blondes Haar, groß, klein, schmales oder ausladendes Becken), der Anfall aber verläuft immer gleich. César hat anschauliche Zeichnungen anfertigen lassen, um jenen etwas entgegenzusetzen, die behaupten, deine Krankheit existiere nicht. Sie sei bloß eine Erfindung Césars. Es gibt nun Schaubilder, die das Gegenteil beweisen, Fotos, die das Gegenteil beweisen. Denn was ich sehe, das gibt es. Was ich sehe, das ist da.
    Der Anfall lässt sich in vier Phasen aufteilen:
    Die Hystéro-Épilepsie
    In jener ersten Phase ist dein Körper ein loses Bündel Knochen, und sie schlagen gegeneinander, sie rappeln und klappern. Du bäumst dich auf wie ein Pferd. Du schreist die Bewegung aus dir heraus, und wenn du Glück hast, gerät die Welt um dich ins Schwimmen, und einen Moment darfst du aufhören zu sein.
    Die Grands Mouvements
    Auch Clownsphase genannt. Denn so gebärdest du dich. Doch jetzt ist nicht mit dir zu spaßen, für ein paar Minuten bist du stark, stärker als César, du könntest die jungen Ärzte packen, sie in die Luft werfen und herumwirbeln. Das meinst du zumindest, während du dich biegst und hochschnellst und zu Boden gehst. Das Ende dieser Phase läutest du ein, indem du den Rücken durchdrückst, dein Körper formt einen Bogen, den arc-en-cercle. Eine Akrobatin bist du, eine Schauspielerin, eine Kämpferin, ein Tier, ein Monster. Du

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