Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Jacques überzeugen kannst. Du darfst jetzt nicht drauflosplappern. Gerade willst du dir eine zusammenhängende Geschichte ausdenken, behaupten, etwas Entscheidendes gehört oder gesehen zu haben, als die Dienstags-Augustine dich überwältigt. Statt die Worte fein säuberlich aufzureihen, lässt du sie aus dem Mund purzeln.
»Geh nicht hin, du darfst nicht hingehen, er hilft dir nicht, das wird er nicht.«
»Doch. Wird er.«
Du kannst dir denken, was man Jacques erzählt hat. Dass es sich bei dem neuen Arzt um einen Spezialisten, einen Pionier handelt, die neue große Hoffnung.
»Aber«, sagst du. »Ich habe ihn gesehen. Ich weiß –«
Aber was weißt du denn? Dass der neue Arzt aus der Zeit gefallen ist, eine Maske trägt, sich wie ein geflügelter Schatten bewegt und es schafft, dass dir vor Angst alle Worte ausgehen. »Er trägt eine Maske!«, rufst du, als wäre es ein Beweis, ein untrügliches Zeichen, dass er Böses im Schild führt.
Jacques hat von der Maske gehört; dass sich der Arzt bei einem Unfall die Haut verbrannt habe, das halbe Gesicht. Jacques zuckt die Achseln. Auch ohne, dass sein Gesicht von Narben entstellt ist, würde er sich an manchen Tagen gerne selbst hinter einer Maske verstecken.
Du, Augustine, glaubst nicht an Narben oder zerstörtes Gewebe, sondern daran, dass euch jemand einen Streich spielt. Als hätte sich ein alter Bekannter verkleidet, um sich euch unerkannt nähern zu können. Jacques und du aber, ihr habt keinen gemeinsamen Bekannten, und du bist sicher, dass diese Scharade nicht in freudigem Gelächter und allgemeiner Erheiterung enden wird. »Geh nicht hin«, sagst du. Und bevor du dich versiehst, hast du Jacques umklammert, hängst mit aller Schwere an ihm, als könntest du ihn so, durch reine Körperkraft, zurückhalten. Er löst deine Hände, steht auf und tritt einen Schritt zurück.
»Jemand muss mir helfen«, sagt er.
» Ich kann dir helfen!«, willst du rufen und bleibst stumm, weil du es in dem Moment selbst nicht glaubst. Du fühlst dich wie eine ratlose Schauspielerin vor einem unbeeindruckten Publikum. Beim besten Willen kannst du dich nicht erinnern, für welche Vorstellung sie Eintritt bezahlt haben.
Den Nachmittag nach eurem Gespräch verbringt Jacques an seinem Lieblingsplatz, hinter den Fenstern im ersten Stock. Er muss schon eine Weile so abwesend auf den Hof gestarrt haben, als er einer dunklen Gestalt gewahr wird. Wie ein menschengroßer Rabe steht der neue Arzt zwischen den Patienten. Sie alle, so scheint es Jacques, halten einen genau bemessenen Abstand zu ihm, so als verlaufe eine unsichtbare Grenze, ein geheimer Radius um den Mann.
Jacques legt gerade die Hände an die Scheibe, als der Arzt den Kopf hebt. Die Augen verborgen unter der schwarzen Maske, könnte er zu den Vögeln in den kahlen Bäumen schauen, zu den schneeschweren Wolken über der Salpêtrière, oder zu Jacques hinter der Scheibe. Erschrocken tritt Jacques vom Fenster zurück. Er entfernt sich, Schritt für Schritt, bis er an die Wand in seinem Rücken stößt. Doch auch hier, im Schutz der Mauern der Salpêtrière, meint er noch immer, den Blick des Arztes zu fühlen, auf und an, ja sogar in sich.
*
Randvoll mit Angst ist Jacques schon zur Welt gekommen. Es braucht nicht viel, und die Angst fließt über, deckt die Menschen, die Tiere, die Häuser und Wälder mit einem bläulichen Schimmer ein, der sie kalt und bedrohlich werden lässt. Von Anfang an sieht Jacques sich umgeben von gefährlichen Kanten, Rissen und Löchern. Die Stimme der Mutter ist zu laut, die des Vaters zu streng, und bereits in frühen Jahren wird er oft ermahnt, sich zusammenzureißen, sich ein ordentliches Leben zuzulegen. Dass er eines Tages und so unerwartet mit dem Zusammenreißen aufhört, lässt sich nur mit der Kutsche erklären. Das zumindest glauben die Eltern. Jacques selbst vermutet, dass er auch ohne die Kutsche eines Tages und ganz ohne Vorwarnung das Zusammenreißen aufgegeben hätte.
An diesem Tag hatte etwas in der Luft gelegen, ein heftiges Flimmern. Jacques hatte das Haus der Eltern verlassen, wie an jedem Tag, und die Straße betreten, mit den Gedanken wie immer woanders. Und plötzlich war er zurückgeholt worden, aus der Luft, von den Wolken und auf die Straße. Der Schmerz, der Lärm, die Wucht des Aufpralls hatten ihn hinabgezogen.
Die Ärzte nahmen an, dass Jacques sich so schnell nicht wieder erholen würde, tatsächlich versöhnten sich die meisten seiner Knochen schon wenige
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