Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
überall auf, schiebst dich zwischen sie und die rettenden Türen. Du kannst ihr zwanzig Sekunden in die Augen schauen, ohne zu blinzeln. Mme. Couronne fürchtet dich aus zwei Gründen. Zum einen, weil sie dir alles zutraut, zum anderen, weil niemand genau weiß, wie es um dich und César steht; aber man munkelt und flüstert, vermutet und stellt sich vor.
Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, kannst du hartnäckig sein, stur wie keine Zweite. Du lässt nicht eher von Mme. Couronne ab, quälst sie mit Reimen und Liedern, bis sie die Hände zusammenschlägt und ruft: »Mein Gott, was willst du denn wissen?«
Nun, zunächst möchtest du wissen, seit wann er krank ist.
»Wie lange ist er denn schon so?«, fragst du. Das so , von dem du sprichst, lässt sich präziser in drei Symptome aufteilen.
Das erste Symptom ist der Schwindel. Wenn Jacques sich durch den Gang schleppt und die Füße schleifen lässt, stolpert er immer wieder, muss oft stehen bleiben und sich abstützen. Das zweite Symptom ist das Herzrasen. Wenn Jacques glaubt, allein zu sein, tastet er heimlich an seinen Brustkorb, als frage er sich, was unter dem weißen Stoff, der dünnen Haut so irre schlägt und pocht. Das dritte Symptom sind die Sprachstörungen. Zwar hat er mit dir bisher noch nicht gesprochen, aber du hast gelauscht, als er sich von den Schwestern hat befragen lassen, hast gehört, wie er ins Stocken geriet, die richtigen Worte sich nie oder viel zu spät einfinden wollten.
»Der hatte einen Unfall«, sagt Mme. Couronne achselzuckend und erzählt weiter, dass Jacques von einer Kutsche angefahren worden sei. Auf den Unfall sei ein Anfall gefolgt, wenige Tage, nachdem sie ihn aus dem Hospital entlassen hatten. Mme. Couronne schaut dich wissend an. Mit Anfällen kennst du dich aus, da muss sie dir nichts erzählen. Du kannst dir nicht recht vorstellen, wie Jacques armerudernd zu Boden geht. Stets bewegt er sich langsam, bedächtig. Wenn er auf einer Bank sitzt, erinnert er dich an eine Puppe, alle Fäden sortiert, alle Gliedmaßen geordnet. Das würdest du gern einmal sehen, wie das Chaos in einen wie ihn hineinfährt, wie er sich selbst entnommen, sich selbst geraubt zum Menschensturm wird. Das würdest du gern einmal sehen, und statt ihn zu Boden zu drücken, statt ihm ein Knie oder eine Faust in den Bauch zu rammen, ihn mit deinem ganzen Gewicht zu fixieren, würdest du dich neben ihn setzen, ihm das Haar aus dem Gesicht streichen und sagen: Es wird vorübergehen.
Heute ist der Tag, an dem du mit Jacques ins Gespräch kommen wirst, dieser Tag wird es sein, du hast ihn dafür ausgewählt. Du weißt es schon, als du morgens die Augen aufschlägst, aber erst als du Jacques allein auf einer Bank sitzen siehst, kannst du dir sicher sein. Während du dich neben ihn fallen lässt, ein wenig zu schwungvoll, ein wenig zu schnell, versuchst du dich zu erinnern, wie man plaudert. Es liegt eine Weile zurück, dass du dich das letzte Mal in Konversation versucht hast, in Gesprächen, die nicht um dich kreisten und um Herrn C. Kein Wunder, dass dir die Worte stockend von der Hand, nein, eher aus dem Mund, gehen. Du willst es mit etwas Unverfänglichem probieren und sagst, dass heute aber schönes Wetter sei.
Jacques antwortet nicht und beobachtet den gekachelten Fußboden. Du tust es ihm gleich, ihr seid ein aufmerksames Publikum für diesen schwarz-weiß gemusterten Boden, der auch unter eurem wachsamen Blick weiter lebloses Schachbrett bleibt. Ihr sitzt still, ihr sitzt stumm, und dir gehen all die Dinge durch den Kopf, die du Jacques gern sagen würdest, aber sie sind nicht geordnet, sie fallen wie der Regen, ein Tropfen nach dem anderen, und wenn du sie in einem Fass, einem Eimer, einer goldenen Schüssel auffängst, dann haben sie sich schon vermischt, sind graue Suppe und ergeben keinen Sinn mehr: Zufinhaukomsemitdensutoanliechgst.
Also schweigst du, zählst bis hundert und wieder zurück zur Null. Du sagst nichts, er sagt nichts, und schon steht eine Schwester vor euch. Sie hilft Jacques auf, alleine kommt er nicht hoch, und bevor du dich versiehst, führt sie Jacques davon, bringt ihn in den anderen Flügel. Du bleibst zurück, und weil niemand in der Nähe ist, schlägst du deinen Kopf kurz gegen die Wand, du weißt nicht, wohin mit deinem Ärger, deiner Wut, deiner Angst. Du denkst: Wenn es drauf ankommt, gelingt mir nie etwas. Und dass dir immer die richtigen Worte fehlen. Dann presst du die Hände fest gegen die Stirn, drückst
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