Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
bist so viel auf einmal, dass du alles in allem schon wieder nichts bist.
Die Attitudes Passionelles
Endlich wird etwas verraten, etwas gesagt. Wer nun gut aufpasst, wird mehr über dich erfahren, als jene, die dir nur zuhören. Die Schauspielerin in dir beteiligt sich nur zu gern an der nun folgenden Scharade, du stellst eine Liebesszene dar, einen Streit, einen Kampf, du weinst, lachst, schimpfst und beschuldigst. »Sie halluziniert ja«, hörst du vielleicht jemanden sagen und verlierst dich weiter im Spiel. Du musst dir deine Kräfte sparen für:
Das Delirium
Eine große Traurigkeit bricht über dich herein, oder eher: aus dir heraus. Du schluchzt und weinst laut, schaukelst vor und zurück, bis du vor Erschöpfung zur Seite fällst und reglos liegen bleibst. Nur wer genau hinsieht, kann dich noch flach atmen sehen.
*
Du liegst in deinem Bett, starrst an die Decke und denkst an Jacques. Das Unruhigste an ihm sind seine Augen. Sobald er einen Raum betritt, tastet er ihn mit Blicken ab, lässt sie in die Ecke und zur Decke schnellen, so als fürchte er, die geheimen Gefahren und Bedrohungen könnten sich jederzeit und aus dem Hinterhalt anschleichen.
Du stellst dir vor, malst dir aus, wie er steht, wie er sitzt, wie er spricht und dich ansieht. In Gedanken zumindest willst du bei ihm sein, willst du überall sein, nur nicht hier. Außer dir befindet sich niemand in deinem Zimmer, trotzdem spürst du, wie sich unsichtbare Fäuste in deinen Körper pressen. Jenes unangenehme Gefühl hast du Césars neuster Erfindung, der Kompresse, zu verdanken. Mit einem Gurt um deinen Unterleib geschnallt, übt sie ununterbrochen Druck aus. Eine effektive Behandlung, hat César nicht dir, sondern den anderen Ärzten im Raum erklärt, könne nur durch kontinuierlichen Druck auf die widerspenstigen Organe gewährleistet werden. Diese seien wie wilde Tiere, die gezähmt werden müssten, Tiere, die unter ständiger Beobachtung stehen sollten. Du und deine wilden Tiere, in Unterleib und Kopf, ihr habt genickt und euch euren Teil gedacht.
Heute bist du besonders widerspenstig, schon längst versuchst du nicht mehr, dich dem Druck zu ergeben, ihn als Heilung begreifen zu wollen und nicht bloß als Schmerz. Endlich kommt eine Schwester, dann ein Arzt, dann ein zweiter, dann César. Du zappelst und windest dich, behauptest, auf die Toilette zu müssen, behauptest, Durst zu haben, behauptest, hungrig zu sein. Bald beschließt César, dass es an der Zeit ist, die heutige Sitzung zu beenden. Du setzt dich auf, ordnest dein Haar, denkst, dass du jetzt etwas erzählen sollst, aber César winkt ab. Deine Geschichten haben sie schon hundert Mal gehört. Du schaust von César zu dem Arzt, der hinter ihm steht, und wieder zurück, du traust deinen Augen nicht, aber tatsächlich: César und die anderen beiden Ärzte sind gelangweilt. Sie gähnen nicht, stöhnen nicht, aber ihre Blicke rutschen im Raum herum, ihre Augen schenken dir so viel Aufmerksamkeit wie der Wand in deinem Rücken. Da brichst du in die Stille ein. »Letzte Nacht«, sagst du, »habe ich in meinem Bett gelegen und gehört, wie Männer durch mein Zimmer schlichen. Sie trugen Messer bei sich und fielen über mich her. Ich brauche Schutz.«
César sieht auf; der Arzt neben ihm holt Stift und Notizblock hervor und beginnt zu schreiben. Soweit du erkennen kannst, notiert er bloß ein Wort, oder vielleicht zwei.
»Ist es möglich, dass Sie geträumt haben?«, fragt er.
Du schüttelst den Kopf.
»Nein.« Du sprichst zu laut und ruckst vor, als wolltest du dem Arzt die Notizen aus den Händen reißen.
In den ersten Wochen hier warst du so leise, dass man sich vorbeugen, dich bitten musste, das Gesagte zu wiederholen, wenn man dich verstehen wollte. Einen Arzt wie César hattest du noch nie getroffen. Oft gerietest du ins Stammeln, ins Stocken, ins Flüstern und wurdest rot. Aber das ist lange vorbei. Du bist müde, du hast keine Lust mehr.
Seitdem du hier bist, gibt es zwei Augustines. Die Dienstags-Augustine und die aller übrigen Tage. Etwas im Verhältnis der beiden scheint sich zu verschieben. Das andere Ich, die Dienstags-Augustine, welche du noch bis vor kurzem aufrufen und abstreifen und zurück in den Schrank hängen konntest, geistert nun auch durch die übrigen Tage. Sie verschwindet nicht mehr, schlimmer: Sie gewinnt die Überhand. Erst letzte Woche bist du zum ersten Mal vollständig in einem Anfall verschwunden. Du gabst nicht länger vor, die Frau mit den
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