Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
den Kopf, bis ihr einfiel, wer gleichermaßen kenntnisreich und auskunftsfreudig war. Sie warf sich einen Umhang über, stahl sich aus dem Schloss und versteckte sich hinter Hecken, wo sie den Kindern des Königreichs auflauerte. Kinder, wusste Miranda, erzählen gerne und viel. Während der gewisperten Heckengespräche erfuhr die Prinzessin, dass es keinen einzigen Kinderkopf gab, durch den der Jäger nicht spukte. Er wanderte durch ihre dunklen Träume, die stillen Abende in einsamen Zimmern, wenn der Schlaf nicht kommen wollte. Die Jungen und Mädchen waren gewarnt worden, von den Eltern, die nicht wollten, dass sie im Spiel und aus Übermut in den Winterwald liefen. Doch mit ihren Geschichten über den Jäger hatten die Mütter und Väter unbedacht ein Stück Winterwald in ihre Herzen gebracht, und als die Jungen und Mädchen von der Schreckensgestalt berichteten, weiteten sich ihre Augen furchtsam, und ihre Stimmen wurden leise. Der Jäger, erzählten sie, jagt Tiere, er jagt Menschen, er jagt den Sturm und die Wolken, jagt ohne Gedanken und ohne Worte. Seine Pfeile treffen immer, seine Axt verfehlt nie ihr Ziel. Er selbst ist aus Stille und Kälte gemacht. Seine Augen sind schwarz wie Kohle und leblos wie Steine. Zwar ist sein Gesicht wächsern und weiß wie die Haut der Toten, doch sein Haar und seine Kleidung sind dunkler als jede sternenlose Nacht. Das Schwarz des Jägers ist so dicht, so durchdringend, dass es bereits gleißend hell wirkt und wie eine Flamme bis in jeden Winkel des weißen Waldes zu sehen ist. Wenn der Jäger unentdeckt bleiben möchte, weil er auf die Jagd geht, dann verliert er seine Farben, verschmilzt mit dem Schnee, steht reglos wie ein Baum, bewegt sich lautlos wie ein Fuchs, so lange, bis er dicht hinter einem steht und man seinen kalten Atem im Nacken spürt.
»Und habt ihr keine Angst, dass er sich nachts in eure Häuser schleicht und euch aus den Betten stiehlt und in den Winterwald schleppt?«, fragte die Prinzessin.
Die Kinder schüttelten die Köpfe. Nein, sie hatten keine Angst, denn den Wald, das hatten ihnen die Eltern erklärt und versprochen, den Wald verlasse der Jäger nie. Aber wie ist dann der Prinz in den Wald geraten?, fragte Miranda sich im Stillen.
Nachdem die Prinzessin jedes Kind im Königreich befragt hatte und nun einiges mehr wusste als zuvor, ging sie den Kundschafter in seinem Verlies besuchen. Niedergeschlagen lehnte sie die Stirn gegen die Gitterstäbe und seufzte.
»Du hast recht«, sagte sie. »Als Prinzessin bin ich machtlos gegen den Schnee. Und die Wölfe. Und die Kälte. Und den Jäger.«
»Und die Dornenhecke«, fügte der Kundschafter auf seiner Pritsche hinzu.
»Eine Dornenhecke gibt es auch?«
Der Kundschafter nickte. »Prinz Julian befindet sich in einem Turm ohne Tür und Treppe, und um den Turm rankt sich eine Dornenhecke. Wer den Prinzen retten will, muss die Dornenhecke hinaufklettern und ihn zurück ins Leben küssen.«
»Und der Jäger hat ihn in den Turm gesperrt?«, fragte die Prinzessin.
»Ja, Euer Majestät«, antwortete der Kundschafter.
»Aber warum?«
»Bloß zum Zeitvertreib«, sagte der Kundschafter. »Im Winterwald ist es bisweilen sehr langweilig.«
»Nun ja«, sagte die Prinzessin, die sich in ihrem Leben auch schon oft gelangweilt, deswegen aber noch nie jemanden eingesperrt hatte. Außer einmal die dritte Hofdame, aber bloß in einen Kleiderschrank, und sie hatte sie noch in derselben Stunde wieder herausgelassen.
Da Miranda nun eingesehen hatte, dass es unmöglich für eine Prinzessin war, in den Winterwald zu reisen, um einen Prinzen zu retten, den ein Jäger in einen Dornenturm gesperrt hatte, weil ihm gerade danach war, tat sie das, was sie immer tat: Sie langweilte sich. Sie langweilte sich, wenn sie am Fenster saß und vorgab, Harfe zu spielen, obwohl sie es im Grunde nicht konnte. Sie langweilte sich, wenn sie der Königin und dem König zuhörte, wie sie sich stritten, über das Wetter oder Kronen. Sie langweilte sich, wenn sie tanzte, und sie langweilte sich, wenn sie ausritt, und sie langweilte sich, wenn sie nachts in ihrem Bett lag. Besonders die nächtliche Langeweile machte ihr zu schaffen, denn in den stillen Stunden zwischen Sonnenuntergang und -aufgang gab es nichts, was sie ablenkte. Während sie an die Decke ihres prunkvollen Gemachs starrte, war ihr plötzlich, als ob sich ein schweres, staubiges Tuch auf sie legte. Mit einem Mal konnte sie sich ihr gesamtes Leben bis in alle Einzelheiten
Weitere Kostenlose Bücher