Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
noch einmal besuchen gefahren bin, da habe ich die leeren Räume fotografiert – das Schlafzimmer, das Wohn- und das Esszimmer und hier«, du deutest auf einen Raum, der in düsterem Waldgrün gehalten ist, »das Arbeitszimmer meines Großvaters. Und die Menschen, die du siehst, keiner von ihnen ist in dem Haus gewesen, das war mir wichtig – für das Projekt.« Du räusperst dich. Noch nie habe ich dich so lange über etwas sprechen hören, das unmittelbar mit dir zu tun hat. »Ich habe sie alle in ihren eigenen Wohnungen abgelichtet, dann das Ergebnis verkleinert und ausgedruckt. Entlang der Körperumrisse habe ich sie ausgeschnitten. Diese Figuren habe ich auf die Bilder der Zimmer gelegt und sie befestigt. Getackert oder geklebt, um so eine dritte Fotografie – die Zusammenführung der beiden vorherigen – zu erstellen.«
Ich nicke. Dann lege ich die Fotografie, die ich in der Hand halte – eine gespenstisch wirkende, blonde Frau vor dunkelgrüner Tapete – sehr vorsichtig wieder zurück.
Die Geschichte der Freunde
Für einen Menschen, der wenig spricht, der gerne im Hintergrund bleibt und darauf wartet, angerufen, angeschrieben, angesprochen zu werden, hast du viele Freunde. Mir scheint dein Freundeskreis geradezu stadtumfassend groß. Wenn wir deinen Freunden begegnen, auf der Straße oder im Supermarkt, dann fürchte ich mich vor ihnen. Dass wir ihnen begegnen, bleibt natürlich nicht aus. Wir wohnen ja alle im selben Viertel, dem Junge-Leute-Viertel, in dem ich mich zunehmend alt fühle.
Die meisten von ihnen kennst du von der Kunsthochschule. Und ich mache feindselige Scherze darüber, dass man ihnen das Künstlerische auch gleich ansieht. Ihre Kleidung ist voller Farbspritzer, manchmal sind auch ihre Hände verfärbt. Die Jungen tragen die Strickmusterpullover ihrer Väter und Schnurrbärte, die Mädchen großen Eulenbrillen, die sie wachsam aussehen lassen. Weil ich nie sicher bin, was ein Versehen ist und was geplante Inszenierung, halte ich mich mit Komplimenten zurück.
Bei den flüchtigen Begegnungen sind sie immer höflich und freundlich zu mir, trotzdem bin ich sicher, dass dich jeder von ihnen hinter meinem Rücken bereits auf mein Alter und meine Größe angesprochen hat.
Ich kann gut verstehen, dass du so beliebt bist. Ich wüsste nicht, wie dich irgendwer auf dieser Welt nicht mögen könnte. Du bist zurückhaltend, sanft. Auch deine Freunde sind ruhige, sanfte Menschen, und ihr scheint mir vollkommen miteinander verschränkt, wie kleine Rädchen, die genau ineinandergreifen. Ihr alle interessiert euch für dieselben Filme, dieselben Bands, dieselben Theaterstücke.
Die meisten deiner Freunde sind Mädchen, die beinahe ausschließlich auf Puppennamen hören: Lotta, Lisa, Klara. Auch die Mädchen selbst sind Puppenmädchen mit feinen Gliedern und akkurat gepinselten roten Mündern und perfekt geformten Muschelohren. Vermutlich werden sie dumm sein, tröste ich mich. Aber immer, wenn sie sich mit mir unterhalten, habe ich eigentlich nicht das Gefühl, dass sie dumm sind.
Es wundert mich ein wenig, dass ihre Namen so genau zu ihnen passen. Ihre Eltern konnten schlecht wissen, dass ihre Töchter einmal zu Puppenmädchen heranwachsen würden.
Mein eigener Name passt überhaupt nicht zu mir. Er hätte kriegerisch und gleichzeitig formell sein sollen, ein wenig bedrohlich, wie Viktoria oder Elisabeth.
»Ich weiß zumindest, wie du als Junge hättest heißen müssen«, sagt meine Mutter, als ich ihr davon erzähle.
»Und wie?«
»Ernst.«
Wenn ich zwischen den Puppenmädchen sitze, steche ich stets hervor, gehöre ganz augenscheinlich nicht zu ihnen. Obwohl ich meist schlichte, schwarze Kleidung trage, fühle ich mich exotisch, auffällig, wie eine Weitgereiste, und so, als käme ich nicht nur aus einem fernen Land, sondern aus einer anderen Zeit. Ich warte darauf, dass jemand mit dem Zeigefinger auf mich deutet und sagt: Eins ist anders als die andern, eins gehört nicht hierher. Und weiter: dass es endlich auch dir auffällt.
Am andere Ende der Stadt wohnt ein Mädchen, das ich mehr fürchte als alle Puppenmädchen zusammen. Du kennst sie schon lange, seit beinahe zehn Jahren kennst du sie, ihr seid auf dieselbe Schule gegangen, auf dasselbe Gymnasium in Friesland, und sie kennt deine Mutter, und sie weiß, wie du aussahst, als du dein Haar in einem kleinen Pferdeschwanz trugst, für den du dich heute schämst. Ihr Name ist Ariane, und ihr seid ein Paar gewesen, nicht besonders
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