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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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lange. Ohnehin liegt all das Jahre zurück, erklärst du mir. Ich nicke, als mache es einen Unterschied. (Aber es macht keinen Unterschied: Sie kennt deine Mutter, und sie weiß, wie dein altes Kinderzimmer aussieht, wie es sich anfühlt, auf deinem schmalen Bett zu sitzen und heimlich zu rauchen und auf die Schritte deiner Mutter zu lauschen. Und ihr seid im selben Monat durch die Fahrprüfung gefallen, und ich stelle mir vor, dass ihr beim Abschlussball nach eurem Abitur miteinander getanzt habt.)
    Jetzt studiert ihr beide an derselben Kunsthochschule, und ich nehme an, ihr seht euch oft, aber darüber will ich nichts wissen, und ich will ihr auch nicht begegnen. Ich sträube mich, wenn du vorschlägst, dass wir sie und eure gemeinsame Freundin Lotta besuchen sollen.
    »Ich glaube nicht, dass sie mich mögen werden«, sage ich.
    »Das weißt du doch gar nicht«, sagst du. »Außerdem, so langsam müssen sie dich kennenlernen. Sie glauben mir mittlerweile nicht einmal mehr, dass es dich gibt.«
    »Manchmal glaube ich das auch nicht«, sage ich.
    Du lachst, als hätte ich einen Witz gemacht.
    Kurz darauf bist du zu Arianes Geburtstag eingeladen, und weil ich dir eine Freude machen will, kündige ich an, mitkommen zu wollen.
    Gegen Nachmittag wird mir mulmig zumute, und wir verabreden ein geheimes Zeichen, durch das ich dir im Notfall signalisieren kann, dass ich gehen möchte. Aber es ist ein kniffliges Zeichen, für das ich drei Finger meiner rechten Hand verwenden muss. Ich weise dich darauf hin, dass es zum einen nicht besonders unauffällig ist und ich zum anderen bereits nach einer halben Stunde zu betrunken sein werde, um die komplizierte Fingerverknotung zu koordinieren. Wir lachen, und ich denke, dass ich den Abend überstehen werde.
    Wir verbringen die Abende zwar meist zusammen, aber wir gehen nur selten aus. Wenn überhaupt, dann ins Kino. Einmal habe ich dich zu einer von Nils langweiligen Gartenpartys mitgenommen, dort sind wir aufgetaucht wie zwei Gespenster und haben den Abend auf der Hollywoodschaukel ausgesessen.
    »Aber wenn ihr allein seid, dann sprecht ihr schon miteinander?«, hat Nils mich am nächsten Morgen gefragt. Und ich habe nicht geantwortet, gerade so, als ob ich es selbst nicht wüsste. Es ist mein geheimes Wissen, dass wir oft und lange sprechen: Ich erzähle dir alles, was sich tagsüber ereignet hat, und du, du denkst dir gerne Dinge aus. Der Kater der Nachbarn verbringt viel Zeit bei uns, und du gibst ihm einen Namen, im Gedenken an meinen Onkel nennst du ihn Herr Paulsen und erfindest ein Leben für ihn. Wir reden viel Unsinn, wir lachen oft, wir sind sicher geborgen in einem Netz aus Anspielungen, Witzen und eingeübten Wortspielen, die niemand außer uns versteht.
    Wie die meisten deiner Freunde wohnen auch Lotta und Ariane in einer teilsanierten Altbauwohnung. Kaum, dass wir durch die Wohnungstür treten, bin ich orientierungslos. Die Wohnung scheint aus zahllosen Zimmern und einem unendlich langen Flur zu bestehen.
    In der Küche gibt es Bier, Wein und sogar Wodka. Wir treffen auf einige der Puppenmädchen, und sie stellen mir freundliche Fragen, auf die ich einsilbig oder in kurzen Sätzen antworte. Viel zu sehr bin ich mit den Fragen beschäftigt, die ich mir selbst stelle. Etwa, wie viele der Puppenmädchen du bereits geküsst hast und ob du mit ihnen über mich gesprochen hast, und wenn ja, was du gesagt hast, was sie gesagt haben. Während ich düster in meine Bierflasche starre, blinzelst du unsicher in den Raum hinein. Auch unter deinen Freunden bist du scheu und zurückhaltend, aber dein Schweigen ist ein freundliches, du schaust und lächelst freundlich, und wenn du sehr leise antwortest, dann tust du auch das freundlich.
    Nachdem wir eine Weile auf dem Flur gestanden haben, gehen wir weiter in Lottas Zimmer und sind plötzlich umringt von deinen Freunden. Sie kommen so schwarmartig über uns, dass ich versucht bin, die Arme vors Gesicht zu reißen und wild in der Luft herumzufuchteln.
    Ein Junge legt dir eine Hand auf die Schulter, ein Mädchen streicht dir durchs Haar, ein anderes stupst dich an. Etwas an dir macht, dass man dich anfassen möchte, dass man einen Schritt näher an dich herantreten und sich an dich schmiegen will. Man will dich berühren wie ein feines Tier mit glänzendem Fell, wie eine lebende, atmende Kostbarkeit. Die Freunde bestürmen dich mit Fragen: Wo treibst du dich herum in letzter Zeit? Man sieht dich so selten, und in der Cafeteria bist du

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