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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Strömung.
    Festhalten, denkt Miran, ich muss ihn festhalten.
    Loslassen, denkt Julian, ich darf nicht loslassen.
    Und während sie davongerissen werden, durch das Wasser und durch die Zeit, erinnert sich Miran an das, was war, an das, was sein wird, und an etwas, das er Julian sagen, das der Prinz unbedingt wissen muss. Statt Worten steigen Luftblasen auf. Noch spürt Miran die andere Hand in seiner, doch die Zeit läuft ihnen davon, und er denkt die Worte, denkt sie laut und deutlich, lässt sie wachsen, bis sie Teil der Strömung werden und sie umgeben und durch sie hindurchfließen, sodass auch Julian sie hören kann:
    Du wirst mich am Strand finden.

II
    IN DER BRANDUNG, AUF D EM SCHIFF,
    VOR DEM RAD
    Du wirst mich vielleicht nicht gleich erkennen, aber ja, wir werden uns wiedersehen.

Jan
    Etwas, das ich vielleicht schon immer vermutet habe, das ich aber erst ganz verstehe, als ich dich kennenlerne:
    Unsere Geschichten sind auch die Geschichten unserer Eltern, die Geschichten unserer Großeltern. Selbst wenn wir keine Väter haben oder keine Großeltern, keine Schwestern und keine Brüder, sind die Geschichten dieser Abwesenden auch und vor allem unsere Geschichten.

Ich will von dir erzählen.
    Wenn man dich fragt, was du machst, womit du dein Geld verdienst, dann antwortest du immer ein wenig zu leise, ein wenig zu schnell.
    »Ich bin Künstler«, sagst du und schaust verlegen zur Seite, wie jemand, der gerade gelogen hat.
    Bei unserer ersten längeren Unterhaltung erzählst du mir, dass du an der Kunsthochschule studierst, doch bevor ich weitere Fragen stellen kann, lenkst du das Gespräch auf ein anderes Thema.
    In den ersten Wochen, nachdem wir ein Paar geworden sind, habe ich kaum mehr als eine ungefähre Vorstellung davon, was du tust. Statt mir von dir zu erzählen, sprichst du lieber über die Filme, die du gesehen, und die Bücher, die du gelesen hast, über das Verschwinden der Fische in der Nordsee, über anstehende Wahlen und die Erhöhung der Fahrscheinpreise. Kein Versehen, wie ich bald verstehe, sondern Strategie. Du bist sehr geübt darin, von dir abzulenken, so geübt, dass ich mich deinen Fragen ergebe und zunächst nicht einmal bemerke, dass ich dich dabei aus den Augen verliere. Seit Merwin und Corwin hat mir niemand mehr zugehört, wie du es tust. Und weil ich dankbar bin für deine Aufmerksamkeit, mich geschmeichelt fühle durch dein Interesse, fällt mir erst mit einiger Verzögerung auf, dass dein Innenleben hinter einer Betonwand verborgen bleibt, während meines sich hinter Glas abspielt. Bald schon, fürchte ich, weißt du alles über mich, aber ich nichts über dich.
    Zumindest gelingt es mir, einige Eckdaten herauszufinden: wann du geboren wurdest, wann ihr von der kleinen Insel vor der norddeutschen Küste aufs Festland gezogen seid. Wann und warum du in diese Stadt gekommen bist.
    »Ich habe mich damals an allen möglichen Kunsthochschulen beworben. Am liebsten wäre ich im Norden geblieben, wegen meiner Mutter. Aber dann haben sie mich hier genommen.«
    »Ein Glück«, sage ich.
    Es gibt nur sehr wenige Einzelheiten, wenige Details, die ich weiß. Zum Beispiel, dass du dich vor kleinen Tieren fürchtest, seitdem du ein Kind bist, seitdem dir einer deiner Onkel von Insekten erzählte, die in die Ohren und durch die Nasenlöcher kriechen und im Schädelinneren Nester bauen und Eier legen – ich weiß nicht, warum ein Onkel seinem Neffen so etwas erzählen sollte. Aber ich weiß schließlich auch nichts über deine Onkel, entlocke dir gerade einmal, dass du keine Geschwister hast. In den ersten Monaten fällt mir auf, dass du zwar hin und wieder von deiner Mutter, aber niemals von deinem Vater sprichst. Ich weiß nicht, was es bedeutet und ob es etwas bedeutet.
    Die Geschichte der Fotografien
    Genau wie du verrät mir auch deine Wohnung nicht viel über deine Vergangenheit. Als du mich das erste Mal mit zu dir nimmst, streife ich auf der Suche nach Geheimnissen durch den großen Wohnraum. Zumindest auf Bilder deiner Familie hatte ich gehofft, aber die ordentlich gerahmten Fotografien zeigen keine Menschen, sondern Gegenstände: Stühle, deren staksige Beine wie im Kampf ineinander verhakt sind, Telefone, die sich miteinander zu unterhalten scheinen.
    Eine Wohnung wie deine habe ich noch nie gesehen. Du besitzt kaum Möbel, dafür aber viele Bücher, Platten und CDs. An Regalen fehlt es, darum stehen die Bücher – zu gleichen Teilen Bildbände und Romane – in hohen Stapeln an

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