Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
ihn mehr als Umriss und Schemen wahr. Er ist hochgewachsen und breitschultrig. Nase und Mund sind durch ein Tuch verdeckt, die Augen zwei teerige Seen. Darüber hinaus scheint alles am Jäger im Widerspruch zu sein.
Sein Haar erinnert an Gefieder. Und Fell.
Seine Haut ist weiß wie Schnee und dunkelgrau wie das Fell der Wölfe.
Seine Bewegungen sind leichtfüßig und schwerfällig.
Miran wird schwindelig, und er muss den Blick senken. Schon zerstieben all die Worte, die er gesammelt hat, um den Jäger zu begreifen. Die Augen noch immer auf den Boden gerichtet, macht er einen ersten unsicheren Schritt auf den Jäger zu, bleibt aber gleich wieder stehen. Er könnte einen, vielleicht auch zwei Winterwölfe enthaupten. Er könnte den Jäger angreifen und – wäre das Glück auf seiner Seite – dessen Brust durchbohren. Doch sicher flösse kein Blut, und der Jäger stünde weiter auf beiden Beinen. Nur Miran verlöre den Halt, würde stolpern und taumeln, der Jäger die Gunst der Stunde nutzen und seinen Bogen spannen. Und seine Pfeile, hieran zweifelt Miran nicht, träfen ihr Ziel und ihn mitten in die Brust. Anders als der Jäger ginge er zu Boden, sein Herz – genau in diesem Moment kann er es schlagen und pochen und hämmern fühlen – würde stillstehen. Und Miran begreift, dass sie verloren sind, wenn sie kämpfen, und verloren sind, wenn sie fliehen; die flinken Wölfe und schnellen Pfeile würden sie einholen, bevor sie die Grenze des Winterwalds erreicht hätten. Der Ritter, der unlängst noch eine Prinzessin war, sackt in sich zusammen. Es reicht nicht, sich von innen nach außen zu stülpen, es reicht nicht, sich an spitzen Dornen zu stechen, es reicht nicht einmal, den Sprung ins Nichts zu wagen. Alles, was er tat, tat er vergebens. Das Schlittern, das Klettern, das Umstülpen, das Brennen und Frieren. Miran lässt sein Schwert sinken und die Schultern hängen. Da sieht er etwas aufblitzen, dreht den Kopf und erblickt ein gleißend helles Licht in der Ferne. So lange ist er durch milchigen Nebel und dunstiges Grau gewandert, dass er die goldene Scheibe zunächst nicht erkennt.
»Die Sonne«, flüstert Julian neben ihm.
Miran sieht sich vorsichtig um. Zaghaftes Grün und Braun mischt sich überall in das schon allzu vertraute Weiß. An einigen Stellen ist der Schnee bereits geschmolzen, und jetzt, da Miran nicht länger nur den Jäger, sondern auch die Welt um sie herum wahrnimmt, bemerkt er, dass sich die Veränderung nicht nur sehen und hören, sondern auch fühlen lässt: Unter ihren Füßen zittert die dünner werdende Eisschicht leicht. Als wüsste der Jäger um Mirans Gedanken an Flucht und Entkommen, spannt er seinen Bogen.
Es ist leicht, eine schwere Rüstung zu tragen.
Es ist leicht, sich die Hände blutig zu klettern.
Es ist noch viel leichter, auf den Retter in letzter Sekunde zu warten.
Aber es ist schwer, unendlich, unwahrscheinlich schwer, den Moment zu packen und ihn herumzudrehen.
Es ist schwer, unendlich schwer, Dreh- und Angelpunkt zugleich zu sein.
Wie einen retten, der nicht gerettet werden will?
Wie einen besiegen, der nicht besiegt werden kann?
Wie für zwei kämpfen, wenn man nicht einmal sich selbst beschützen kann?
Geblendet vom Weiß des Schnees blickt Miran auf die dünne Eisdecke, die sie gerade noch zu tragen vermag. Jede Sekunde könnte sich ein feines Spinnennetz unter ihren Füßen ausbreiten, könnten sie einbrechen, untergehen und davongerissen werden. Unter der Eisschicht strömt das Wasser aus dem Wald. Jenseits der Winterwaldgrenze fließt es kalt und klar, doch frei von frostigen Schichten durch die Königreiche.
Miran stockt. In seinem Kopf wirbeln die Gedanken und Bilder durcheinander. Jemand muss die Zeit angekurbelt haben, denn mit einem Mal überstürzen sich die Ereignisse. Während der Jäger auf Miran zielt und der Prinz seufzt, während der erste Wolf zum Sprung ansetzt und irgendwo weit entfernt eine Fledermaus ihre Flügel verliert, während der Prinz sich ein letztes Mal an die Hand nehmen lässt und trotz der Kälte und trotz der Angst und trotz der Schneeflocken und trotz der Wölfe denkt, dass er nirgendwo anders sein sollte als dort, wo er ist, während all das passiert, stößt Miran sein Schwert in die Eisdecke.
Risse schlagen ein wie Blitze, die Eisschicht birst. Miran findet keinen Halt mehr, es gibt nur noch den freien Fall; es gibt keine Luft mehr, nur noch Wasser, keine Wölfe, nur noch Fische, keinen Schnee, nur noch die
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