Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
auch nicht mehr.
Ich trinke hektisch und in großen Schlucken. Halte ich dich von deinen Freunden fern? Bin ich das? Lotta lächelt mir zu, und ich fühle mich nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Flackern, ein Störgeräusch. Ich bin der Gast, den keiner eingeladen hat und den man bei nächster Gelegenheit diskret aus dem Raum führen wird.
Es wird viel über ein Kunstprojekt von Lotta gesprochen. Sie hat Menschen fotografiert, die bereits seit über fünfzig Jahren verheiratet sind, und irgendwer fragt dich, ob auch deine Großeltern dabei sind. Nein, du schüttelst den Kopf und zeigst dein verlegenes Lächeln und sagst nicht, dass deine Großeltern bereits verstorben sind, verlierst kein weiteres Wort über sie, und ich wundere mich. Wundere mich auch den weiteren Abend über. Niemand scheint zu wissen, dass du nicht mehr in der Cafeteria arbeitest, sondern als Hiwi in der Fachbibliothek der Kunsthochschule, niemand scheint zu wissen, dass du in der nächsten Woche nicht in der Stadt sein wirst, weil du deine Mutter besuchen fährst. Die großen und die kleinen Dinge, niemand scheint von ihnen zu wissen.
Schnell werden mir die Begrüßungen und Verabschiedungen, die Menschen und die Gespräche und die wummernde Musik zu anstrengend, und ich flüchte auf die Toilette, wo ich die Stirn gegen die gekachelte Kälte der Wand presse. Dann drehe ich den Hahn auf, schöpfe das Wasser mit den hohlen Händen und tauche mein Gesicht ein. Als ich aufblicke, will ich meinem Spiegelbild ausweichen, bleibe aber daran hängen. Das Licht ist grell und lässt mich gleichzeitig bleich und schattig aussehen, krank und müde. Ich stehe noch einige Sekunden auf das Waschbecken gestützt, den Kopf gesenkt, und starre in das weiße Becken.
In Lottas Zimmer kann ich dich nicht finden, entdecke nur Lotta. Ein Freund hält sie am Handgelenk, wie man einen Luftballon halten würde. Und ich denke, dass es besser so ist, dass sie andernfalls und ohne die haltende Hand davonschweben könnte, so leicht, so frei von Schwere und Druck erscheint sie mir.
Einmal fragst du mich, wie meine Schwester ist, und statt zu antworten, was ich antworten sollte, dass ich sie schlecht in einem Wort beschreiben kann, dass du sie selbst kennenlernen müsstest, sage ich: »Gefällig.«
Ich finde dich in dem letzten Zimmer auf der linken Seite. Es muss Arianes Zimmer sein; und die Frau auf der Fensterbank sitzend ist Ariane. Das weiß ich, noch bevor du sie mir vorstellst. Ich kann es sehen, in der Anordnung eurer Körper, wie ihr zueinander steht, wie ihr euch nicht berührt und es auffällig ist. Was ich sehe, ist bloß ein Echo, ein Nachhall, etwas, das einmal war und jetzt nicht mehr ist. Nichts, worum ich mich sorgen müsste, aber ich sorge mich doch.
Ich bin im Türrahmen stehen geblieben und sollte wohl entweder in den Raum hinein oder zurück in den Flur gehen. Nur kann ich mich weder für das eine noch für das andere entscheiden, nicht dafür, zu euch zu gehen, und nicht dafür, mich länger schweigend, trinkend, denkend in der Wohnung herumzutreiben.
Du hebst den Kopf, siehst mich in der Tür stehen und schaust mich fragend an. Ich versuche, mich an unser geheimes Zeichen zu erinnern, da winkst du mich schon zu euch. Während ich auf euch zulaufe, beuge ich die Schultern, trotzdem scheine ich mit jedem Schritt zu wachsen. Als ich vor euch stehe, fürchte ich, mit dem Kopf an die Decke zu stoßen; dabei sind wir gleich groß, du und ich. Du streichst mir fragend über den Oberarm, wie du es immer tust, wenn du dich sorgst, dass ich mich unwohl fühle. Dann sagst du meinen Namen. Das bin ich, denke ich, du meinst mich, denke ich, und bin überrascht.
Ariane erkundigt sich nach meiner Doktorarbeit und ich mich nach ihrem neusten Projekt, das etwas mit großen, mit Helium gefüllten Ballons zu tun hat. Dann weiß ich nichts mehr zu sagen. Auch Ariane schweigt. Ich verflechte die Finger meiner rechten Hand, und obwohl ich nicht einmal annähernd an unser vereinbartes Zeichen herankomme, und obwohl ich die Finger auf Hüfthöhe, halb versteckt unter meiner Jacke halte, musst du es bemerkt haben, denn plötzlich legst du deine Hand auf meinen Rücken. Dort liegt sie, zwischen meinen Schulterblättern.
»Wir sollten besser los«, sagst du, und es ist einzig deine Hand, die mich davor bewahrt, vor Erleichterung in mich zusammenzusacken.
Zum Abschied umarmt Ariane mich. Sie riecht gut, und ich bin sicher, dass sie, sollte man sie nach dem Namen
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