Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
deine Großeltern haben dort gelebt bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren. Als Kind hast du sie oft besuchen müssen, deine Mutter hat es so gewollt. Sie habe dich immer mit dem Auto bis vor die Haustür gefahren, aber mit reingekommen sei sie nie.
»Meine Großeltern haben meine Mutter nicht gemocht«, sagst du. »Sie kommt vom Festland, weißt du?«
Ich stelle mir vor, in einer Welt zu leben, in der es ein Makel ist, nicht auf einer Insel geboren zu sein. Es gelingt mir besser als gedacht.
»Meine Mutter wollte wahrscheinlich ihren guten Willen zeigen. Deswegen hat sie mich geschickt, als Ersatz oder Friedensangebot.«
»Als Ersatz?«, frage ich, ungeduldig und entgegen meinem Vorhaben, dich in Ruhe erzählen zu lassen. »Für deinen Vater?«
Du nickst ernst. »Es ist ihr wichtig gewesen, dass ich viel Zeit bei ihnen verbringe. Jedes Wochenende habe ich dort übernachtet.«
Ich denke an deine Fotografien; wenn Zimmer tot sein könnten.
»Ich habe mich die ganze Zeit gefürchtet, vor meinen Großeltern, vor den Zimmern, vor meinen Onkeln.«
»Deinen Onkeln?«
»Die Brüder meines Vaters. Sie haben in der Nähe meiner Großeltern gewohnt, und zum Mittagessen sind sie nach Hause gekommen. Dann haben wir Fisch gegessen.«
»Ihr habt jeden Tag Fisch gegessen?«
»Wahrscheinlich nicht, aber so ist es mir vorgekommen, ja.«
Du isst keinen Fisch, weiß ich. Keinen Lachs und keinen Karpfen und keine Forelle. Du isst nicht einmal Krabben oder Krebse. Es ist nicht nur, dass du Fisch nicht magst. Du ekelst dich vor ihm.
»Und was hast du gemacht? Ich meine, hast du nichts gegessen?«
»Ich habe den Fisch gegessen. Ich habe immer alles gegessen. Wenn ich auch noch damit angefangen hätte, dass ich ihren Fisch nicht essen will – meine Vorfahren, das waren alles Fischer. Mein Großvater zumindest noch, seine Kinder dann nicht mehr. Ein einziges Mal habe ich versucht, mich davor zu drücken, aber mein Großvater verbot mir, aufzustehen, solange ich den Fisch nicht gegessen hatte. Ich saß bis abends dort, und ab und zu kam ein Onkel vorbei und machte einen Witz und boxte mich in die Schulter.«
Ich nicke, dabei kommt es mir mehr als unwahrscheinlich vor. Es geht mir wie mit deinen Bildern: Ich kann es nicht zusammenbringen mit der Person, die ich kenne, kann mir nicht vorstellen, dass du einmal der Junge warst, der zwischen grimmigen Onkeln und strengen Großeltern saß, in tote Fischaugen starrte und sich fürchtete. Ich möchte durch die Zeit und den Raum laufen können, um an die Haustür deiner Großeltern zu klopfen, um wie ein Windstoß durch die dunklen Räume zu gehen, um dich zu erfassen und mitzunehmen. Ich würde dich gleich erkennen, denn sicher hattest du schon deinen ernsten, geraden Mund und deine unruhigen Augen; sicher hattest du schon deinen furchtsamen Blick, und Angst hattest du, das weiß ich ja; vielleicht hast du sie immer noch.
Du erzählst, dass du oft von den Onkeln aufgezogen wurdest. Sie belächelten dich und machten sich einen Spaß daraus, dir Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort wollten. »Kriegt man von dem ganzen Lesen nicht einen schweren Kopf?«, fragten sie, und nach Mädchen fragten sie, dabei warst du gerade einmal zehn, elf, zwölf, was solltest du den Onkeln von Mädchen erzählen? Die meisten mögen mich, hättest du sagen können, und dass du unter den Mädchen immer schneller Freunde fandest als unter den Jungen, aber das hätte es kaum besser gemacht.
Also hieltest du es mit ihren Witzen wie mit den toten Fischen: Du konzentriertest dich auf das Blumenmuster der Tapete, das Ticken der Uhr, während deine Onkel dein Hochdeutsch nachäfften, das sie überbetont und affektiert fanden. Für dich war es bloß die Sprache deiner Mutter, die klarer und deutlicher war als das abgehackte Gemecker, das du von ihnen kanntest. Sie lachten über deine Bücher und lachten, weil du ein sanftes, ein stilles und höfliches Kind warst und deine Cousins so sehr fürchtetest wie die Onkel selbst.
»Immer, wenn ich bei ihnen war«, erzählst du mir, »habe ich in einer Ecke gesessen und gehofft, dass sie mich nicht bemerken, dass ich in den Stunden dort niemandem auffalle und schnell wieder gehen kann. Manchmal haben sie mich ja auch tatsächlich vergessen.
Nachts war es auch nicht besser als tagsüber, nachts habe ich mich nicht weniger gefürchtet. Zumindest nicht, bis mir meine Mutter einen Walkman schenkte, danach konnte ich Hörspielkassetten oder Musik hören, bis ich
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