Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
nicht einmal sagen, was uns denken lässt, dass es unsere Wohnung ist: An der Decke ist kein Stuck, auf dem Boden kein Parkett. Aber es ist auch nicht das Licht, nicht der Schnitt und nicht die Größe, die uns sicher sein lässt, sondern etwas weniger Greifbares, das übereinstimmende Gefühl, die Möglichkeit eines Zuhauses entdeckt zu haben.
Wenig später zieht auch Lotta um. Sie gründet mit ihrer Schwester Mona eine neue Wohngemeinschaft, weil Ariane für zwei Semester in London studiert. Während des Umzugs hilfst du an gleich zwei Tagen, und zum Dank laden die Schwestern uns zum Essen ein. Ich erinnere mich so gut an diesen Abend, nicht wegen des Essens oder eines bestimmten Vorfalls, nicht einmal wegen eines besonders interessanten Gespräches, sondern wegen dem, was nicht gesagt wurde.
Die erste halbe Stunde sprechen wir viel, über den Umzug und über Lottas Eltern, die für ein Wochenende gekommen sind, um zu helfen. Lotta erzählt von ihrem Vater, einem pensionierten Steuerberater mit einer Passion fürs Handwerkliche. Beim Versuch, einen Hängeschrank an der Küchenwand zu befestigen, hat er ein etwa faustgroßes Loch in der kalkhaltigen Wand hinterlassen. Väter!
Wie immer bestreitet Lotta einen Großteil der Unterhaltung, Mona folgt ihr dicht. Wäre der Tisch ein Boot, und wären Worte von Gewicht, stünden wir kurz davor zu kippen. Die Schwestern lachen und sprechen, wir schauen und schweigen. Einer von uns beiden sollte etwas erzählen, denke ich, denn unser Schweigen wird allmählich auffällig und bedeutungsvoll. Gleichzeitig fühle ich mich widerspenstig und unwillig, diese Aufgabe zu übernehmen. Die beiden Mädchen sind schließlich deine Freunde und nicht meine. Du aber hast dich so tief in dein Schweigen zurückgezogen, dass du in absehbarer Zeit wohl nicht herauskommen wirst.
Und so springe ich ein, unsicher und ein wenig holpernd, wie jemand, der gebeten wird, spontan eine Stadtführung zu halten, in einer Stadt, in der er sich nicht besonders gut auskennt. Über Väter weiß ich nichts zu berichten, also erzähle ich von meiner Mutter, die von Jahr zu Jahr kurzsichtiger geworden ist und sich aus Gründen der Eitelkeit weigert, eine Brille zu tragen.
»Letztes Wochenende ist sie sogar auf der Autobahn gefahren, da will ich lieber nicht drüber nachdenken«, erzähle ich. »Wahrscheinlich hat sie währenddessen auch noch telefoniert.«
Mona und Lotta lachen über meine halbblinde, autobahnfahrende Mutter, und ich lache mit, auch wenn ich mich in Wahrheit eher um sie sorge. Du gibst noch immer keinen Ton von dir. Ich bin nicht einmal sicher, ob du atmest.
Am Wochenende zuvor hat uns deine Mutter besucht, die Stimmung ist angespannt gewesen und ist es auch noch einige Tage nach ihrer Abreise geblieben. Deine auffällige Zurückhaltung, glaube ich, sei noch auf ihren Besuch zurückzuführen. Aus dem rechten Augenwinkel sehe ich, dass du die Schultern hochziehst, als wolltest du dich vor etwas ducken. Und als ich dir den Kopf zudrehe, erschrecke ich. Denn für einen sehr kurzen Moment denke ich, neben mir säße ein Fremder. Ich weiß nicht, wie das möglich ist: Da ist deine Nase, deine Augen und dein Mund, es ist dein Gesicht. Der Ausdruck darin aber ist mir fremd, und würde jemand zu mir sagen, etwas sei in dich gefahren, du seist von einem Geist besessen, ich würde es glauben. Während wir von dem Tiramisu essen, das Mona zum Nachtisch gemacht hat, werfe ich dir verstohlene Seitenblicke zu, so, wie man es tut, wenn man jemanden im Café oder der Straßenbahn erspäht hat und plötzlich meint, ihn von irgendwoher zu kennen. Wenn man nur einen genaueren Blick auf ihn werfen könnte, wüsste man sicher auch, woher. Ich brauche eine weitere halbe Stunde, bis es mir gelingt, den Ausdruck in deinem Gesicht zu verstehen, ihn nicht länger nur als Fremdheit wahrzunehmen, sondern als das, was er ist: Angst. Du hast Angst.
Während Mona und Lotta lachen, während wir uns den Wein reichen und einschenken, während wir aufstehen und uns wieder setzen, während wir uns lustig machen über die exzentrischeren Mitglieder und schwarzen Schafe, die Eigentümlichkeiten und Sitten unserer Familien, währenddessen kauerst du auf deinem Stuhl und fürchtest dich davor, dass irgendwer in dieser lauten, lustigen Runde dich nach deiner Familie fragen könnte.
Als wir später entlang des Kanals und vorbei am verlassenen Fabrikgelände nach Hause laufen, warte ich auf den Augenblick, in dem ich dir die
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