Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
einschlief. Aber im ersten Jahr, als ich zehn war, lag ich im Bett und wartete und horchte. Die Nacht war voller Geräusche. Bei offenem Fenster konnte man das Meer hören, die Möwen, und im Haus selbst hörte man meinen Großvater. Er konnte nachts nicht schlafen und lief immer wieder durch den Flur und nach unten. Schwer war er, ein schwerer Mann. Ich hörte ihn auf der Treppe, wie er hustete, und es kam mir vor, als würde er keine Luft atmen, sondern Staub und Geröll. In dem Haus war es ein einziges Rauschen und Schnauben und Ächzen und Stöhnen und Husten und Knarren.
An die Stimme meiner Großmutter kann ich mich nicht erinnern. Sie hat die meiste Zeit auch nichts gesagt, glaube ich. Und auch mein Großvater hat nicht viel gesprochen. Und wenn, dann verstand ich ihn nicht. Das ist das Eigenartige; ich erinnere mich an das Haus gleichzeitig als sehr laut und sehr leise. Es war immer voller Geräusche, aber es hat fast nie jemand mit mir gesprochen und wenn doch, dann nur, um sich lustig zu machen.«
Ich frage mich, wie es für deinen Vater gewesen sein muss, im dunklen, laut-leisen Haus deiner Großeltern aufzuwachsen. Obwohl ich nichts über ihn weiß, du mir nie etwas von ihm erzählst, glaube ich nicht, dass er den Onkeln ähnelte. Ich stelle mir vor, dass er so wie du seine Zeit absaß, dass er hoffte, irgendwann zu verschwinden und bis dahin möglichst unbehelligt in einer dunklen Ecke sitzen zu können.
»Als ich fünfzehn war«, erzählst du, »zogen wir aufs Festland. Ich hätte immer eine Dreiviertelstunde mit der Fähre fahren müssen, um meine Großeltern zu besuchen. Und meiner Mutter war es plötzlich nicht mehr so wichtig, dass ich regelmäßig dorthin fuhr.«
Nachdem es ihr nicht gelungen war, auf der Insel Fuß zu fassen, muss sich deine Mutter neu zum Festland bekannt haben: Dort gehörte sie hin, hatte sie immer schon hingehört, und alle Versuche, sich an die Familie deines Vaters zu binden, waren gescheitert. Tatsächlich gibt es noch einen anderen Grund, warum ihr damals aufs Festland zogt und es deiner Mutter nicht länger wichtig war, was deine Großeltern von ihr hielten. Aber diesen Grund verrätst du mir erst später. An diesem Tag erzählst du nur: wie erleichtert du warst, als du nicht mehr in das Haus deiner Großeltern musstest und dass du es nach ihrem Tod nie wieder betreten und keinen Kontakt mehr zu den Onkeln hast, nein, du weißt nicht, was sie machen und ob sie noch leben, du weißt es nicht und willst es auch nicht wissen.
»Es gibt bloß zwei Albträume, die ich immer wieder habe«, sagst du später. »In dem einen geht es darum, dass ich ins Haus meiner Großeltern ziehen und dort leben soll. Es gibt immer eine andere Erklärung, warum, und obwohl sie mir auch im Traum unsinnig oder wie eine Lüge vorkommt, weiß ich, dass mir nichts anderes bleibt, als auf die Insel zurückzufahren. Weil sie wieder am Leben sind und ich sie pflegen muss, weil ich verpflichtet bin, ein Erbe anzutreten, oder weil ihr Haus durch mich »verwaltet« werden soll – ich weiß nicht einmal, was das Letzte bedeutet. Und plötzlich bin ich wieder auf der Insel, in dem Haus, und alle Uhren stehen still, und ich weiß, ich werde für immer bleiben müssen.«
Was dein anderer, dein zweiter Albtraum ist, hast du mir nie erzählt. Aber ich glaube, es auch so zu wissen. Ich glaube, dass es die Spinnen sind.
Die Geschichte der Spinnen
Die Geschichte deines Vaters
Wir kennen einander ungefähr ein Jahr, als wir zusammenziehen. Weil es günstiger sei, behaupten wir, aber die Wahrheit ist, dass ich nur schlecht oder gar nicht schlafen kann, wenn du nachts nicht bei mir bist. Mein unsichtbares, schweres Tier mit den tausend Augen kehrt dann zurück zu mir.
Wenn ich nicht in die Bibliothek gehe, sondern in der Wohnung arbeite, halten wir uns meist im selben Zimmer auf. Ich warte darauf, dass alle Prophezeiungen wahr werden und du meiner überdrüssig wirst und ich deiner. Aber es passiert nicht.
Zunächst gestaltet sich die Wohnungssuche schwierig. Du willst große, leere Räume, viel Licht und Luft, ich will kleine Zimmer, Ecken und Schrägen, am liebsten eine Dachgeschosswohnung, sodass ich mir nachts vorstellen kann, Merwins und Corwins Schritte auf dem Dach über unseren Köpfen zu hören. Doch schließlich finden wir eine Wohnung, sie ist weder besonders groß noch auffällig klein. Es gibt keine Schrägen und keine verwinkelten Ecken, aber auch keine beängstigend hohen Decken. Ich könnte
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