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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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aufgefallen. Bleibt dir nichts anderes übrig, dann sprichst du nicht von ihm, sondern um ihn herum, dann schließt sich etwas in deinem Gesicht, etwas, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es offen stand. Ich traue mich nicht zu fragen, lege dir vielleicht eine Hand auf die Schulter und schaue wissend, weiß aber rein gar nichts.
    Dein Vater also, ein Schatten, ein Phantom.
    Du nennst weder seinen Namen, noch bezeichnest du ihn als deinen Vater. Der Mann, über den ich kaum etwas weiß, ist eine Aneinanderreihung von Pronomen. » Er war Schiffsingenieur«, sagst du. »Als Kind habe ich im Haus seiner Eltern gewohnt«, sagst du. Ich weiß: Du brichst ihn auf dieses »Er« herunter, um ihn weit von dir zu halten, gleichzeitig lassen mich all deine Platzhalter an Gott denken. »Das war, bevor er verschwand«, sagst du, und es gibt keinen Zweifel, von wem du sprichst, als gäbe es nur einen Er auf der Welt.
    »Er ist einfach verschwunden«, beginnst du in dieser Nacht. »Am Abend war er da, am nächsten Morgen nicht mehr.«
    Ich liege neben dir und atme flach. In den letzten beiden Jahren habe ich mir meine eigenen Geschichten gebaut. Ich habe mir eine Scheidung vorgestellt, einen Rosenkrieg. Zerbrochene Teller und Anschuldigungen und lautes Geschrei, vielleicht eine Geliebte, vielleicht Schulden. Ich habe mir gedacht, dass sich Streitigkeiten schnell herumsprachen auf eurer Insel und ihr bald nicht mehr durch die Straßen laufen konntet, ohne neugierige oder mitleidige oder gehässige Blicke auf euch zu ziehen. Deshalb, so dachte ich, hattet ihr aufs Festland fliehen müssen, dorthin, wo euch niemand kannte.
    Es gab keine Scheidung, erfahre ich jetzt, kein Geschrei, vermutlich keine Geliebte und sicher keine Schulden.
    Eines Tages fiel dein Vater vom Rand der Welt.
    Morgens in aller Frühe musste er aufgestanden sein – deine Mutter schlief noch, genau wie du –, und dann ging er nicht zur Arbeit, sondern zersetzte sich. Er löste sich auf.
    »Und hat ihn jemand auf der Fähre gesehen?«, frage ich.
    Nein, du schüttelst den Kopf.
    Am Tag, als er verschwand, hatte ihn auf der ganzen Insel niemand mehr gesehen. Nicht auf der Fähre und nicht auf den Straßen.
    »Und hatte er sich gestritten?«, frage ich. »Mit deiner Mutter?«
    Du zuckst die Achseln, du sagst, dass du dich zumindest an keinen Streit erinnern kannst, du seist aber auch noch sehr jung gewesen. Aber nein, laut sei es bei euch nie geworden.
    (Ich weiß, man kann sich sehr leise streiten, man kann sich ganz ohne Worte streiten.)
    Es gab also keinen Streit. Es gab keine lauten Worte, es gab keinen Brief, keine Erklärung. Es gab nur das Rätsel: Am einen Tag war er da, am nächsten war er es nicht mehr.
    Und? Ich warte auf die überraschende Wendung, auf die große Auflösung. Ich warte darauf, dass du mir etwas sagst, das ich nicht gewusst habe und nicht habe wissen können, zum Beispiel, dass dein Vater in Drogengeschäfte verwickelt war oder sich später herausstellte, dass er noch eine zweite Familie auf dem Festland hatte, mit einem Sohn in deinem Alter und einem Garten und einem Hund.
    Doch du sagst: »Nein, wir haben nichts herausgefunden. Die Polizei hat auch nichts herausgefunden.«
    »Vielleicht war es ein Unfall«, sage ich. Denn so stelle ich mir das Inselleben vor: ein wenig gefährlich, ein wenig gewagt – ein Leben unter ständiger Belagerung, umstellt und umzingelt von verschwiegenen Tiefen. Vielleicht wurde dein Vater von einem heftigen Windstoß davongerissen, vielleicht rutschte er aus, verlor den Halt auf einem wackligen Steg. Mir fallen ein Dutzend Weisen ein, auf die sich das Meer Menschen wie deinen Vater hätte holen können. Du liegst stumm neben mir. Haben meine Worte etwas angestoßen, stellst du dir deinen Vater vor, verheddert in Taue, eingeklemmt in versunkene Schiffsschrauben, Jahr für Jahr dort unten auf dem Meeresgrund?
    Du kaust auf deiner Unterlippe, wie immer, wenn du überlegst, ob du etwas teilen willst, und ich verstehe, dass meine Vorstellung wenig mit dem zu tun hat, was du glaubst, was du weißt. Ich warte. Nach einer Weile, gerade als mir die Lider schwer werden, sagst du:
    »Ein paar seiner Sachen waren weg. Hemden. Schuhe. Und Geld, Geld war auch verschwunden.«
    Deine Stimme klingt flach. Die verschwundenen Hemden bedeuten dir fast so viel wie der verschwundene Vater. Ich verstehe: Sie schließen einen Unfall, ein Unglück aus.
    »Er ist gegangen«, sage ich.
    Du nickst. »Ja. Das Geld hatte er schon

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