Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
nicht erst seit Wochen oder Monaten. Seit beinahe zwei Jahren treffen sie sich und halten Ausschau nach den verschwundenen Fischern.
Anna beugt sich über den Gestrandeten und stößt ihn mit der Stiefelspitze an. Nora rüttelt ihn an der Schulter. Helen verpasst ihm einen Tritt. Der Mann rührt sich nicht. Keine der Frauen denkt daran, seinen Puls zu kontrollieren, auf seinen Herzschlag zu lauschen. In Perthun hat es so lange keine Toten mehr gegeben, dass die Frauen den Tod nicht einmal dann erkennen würden, wenn er ihnen gegenüberstünde.
»Lassen wir ihn liegen«, sagt Helen.
»Und dann?«, fragt Anna.
»Wenn er allein hierhergefunden hat, findet er auch wieder zurück«, sagt Nora.
»Was, wenn er ein Fischer aus dem Norden ist?«, fragt Anna.
»So sieht kein Fischer aus«, antwortet Nora.
»Aber solange wir nicht sicher sind«, sagt Anna.
Sie blicken auf den Bewusstlosen hinab. Eine Welle spült über seinen Körper, lässt sein Haar einen Moment wie Algen treiben. Nora und Anna schauen Helen an. Weil sie die Älteste ist, wird sie die Entscheidung treffen.
»Bringen wir ihn ins Gasthaus«, sagt sie nach kurzem Zögern.
Sie packen Milan an Armen und Beinen und heben ihn mit einem Ruck aus dem Wasser. Die Frauen sind stark, und Milan ist leicht. Eine Sekunde warten sie, ob seine Lider auffliegen, er sich in ihrem Griff windet, zappelt und zuckt wie ein Fisch im Netz.
Milan bleibt reglos zwischen ihnen hängen, und sie laufen los. Den Wind sind sie gewöhnt, die Kälte, den Regen und die Enttäuschung: Das Meer hat ihnen nicht die gebracht, auf die sie so lange schon warten, sondern einen Fremden, einen, der nicht nach Perthun gehört.
*
Als Helen wenig später das Haus betritt, ist es still. Ihr Sohn schläft noch, träumt von einem fernen Ort. Dort ist es kalt wie in seiner Heimat, der Wind aber geht nicht über das Meer, sondern durch Wälder, und Yann hört das Knirschen von Schnee unter seinen Füßen. Jemand hält seine Hand. Jemand ruft seinen Namen.
Yann öffnet die Augen. Um ihn herum breitet sich das Zimmer aus, nimmt Farbe, Tiefe und Substanz an und wird zu dem Raum, in dem er seine Kindheit, seine Jugend, die letzten Jahre, nein, alle Jahre gelebt hat. Er will aufstehen, doch hängt er noch fest im Traum, fühlt die Schneeflocken auf seinem Gesicht, erinnert sich an Wölfe, an jemanden, der neben ihm, der bei ihm war.
»Yann«, ruft Helen von unten. Sie ruft bereits zum vierten Mal, laut und fragend.
Yann fährt hoch. Wann hat seine Mutter ihn das letzte Mal geweckt? Schnell zieht er sich ein Unterhemd über, eine Hose, einen Pullover, eine Wolljacke. Auch im Haus würde er gern Handschuhe tragen, Helen aber verbietet es. »Heb sie dir für draußen auf, sonst erfrieren dir die Finger«, sagt sie.
Als er nach unten kommt, steht sie in der Küche an der Spüle, die Hände ins heiße Wasser getaucht, den Blick auf die gekachelte Wand gerichtet. Ihre Gedanken haben sie davongetragen, und wie so oft, scheint sie meilenweit entfernt. Im eigenen Kopf reist sie Schritt für Schritt zurück, einen Monat, zwei, drei, ein ganzes Jahr. Sie erinnert sich an dieses und jenes, was gesagt wurde und was getan. Sie denkt vielleicht: Wenn ich nichts auslasse und es mir gelingt, alle Augenblicke aneinanderzureihen, ein lückenloses Mosaik der Vergangenheit zu bauen, eins ohne fehlende Steinchen, kann ich verstehen, wie ich in diesem Hier und Jetzt gelandet bin.
Yann, im Türrahmen, sucht ebenfalls nach der Stunde, die das Davor vom Danach trennte und die Zeit spaltete. Es muss einen Moment gegeben haben, in dem sie plötzlich wussten und verstanden, dass der Vater nicht bloß spät nach Hause kommen würde, sondern überhaupt nicht mehr.
In letzter Zeit ist Yann oft, als zöge jemand aus dem Stapel seiner Gedanken und Gefühle den untersten Baustein hervor, sodass die Teile, aus denen Yann sich zusammensetzt, zu Boden purzeln, sich überschlagen und über den geschrubbten Küchenboden in die Ecken schlittern. Obwohl Yann sich durch kein Geräusch verraten hat, dreht Helen sich zu ihm um. Sie nimmt die Hände aus dem heißen Wasser und greift nach dem Trockentuch.
»Die anderen haben sich im Gasthaus versammelt. Vielleicht solltest du auch hingehen. Sie haben jemanden gefunden. Aber nicht – es ist niemand, den wir kennen.«
Während Yann sich die Stiefel überzieht, zittern seine Hände. Schon seit Wochen läuft ein Kribbeln, ein Surren durch seinen Körper. Jede Stunde ist aufgeladen. Yann
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