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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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überhaupt nicht aus wie deine Mutter. In ihrem Gesicht ist etwas da, was es jetzt nicht mehr gibt – oder etwas noch nicht da, was inzwischen sehr gegenwärtig ist. Das muss ihr Hochzeitsbild sein, denke ich, aber eigentlich gibt es dafür keine Anhaltspunkte: keinen Schleier, kein Weiß, keine Blumen; das Bild zeigt nur ihre Gesichter.
    Schnell lege ich das Foto wieder in den Band zurück und schließe ihn vorsichtig und leise. In diesem Moment und ohne dass ich es mir selbst ganz erklären könnte, fühle ich mich wie die Protagonistin in einem unheimlichen Film und so, als wäre ich in einer staubigen Truhe auf ein furchtbares Familiengeheimnis gestoßen. Und weiter: dass du mir meinen Fund zum Vorwurf machen und nicht verzeihen könntest. Ich stelle den Band zu den übrigen zurück und gehe ins Wohnzimmer, wo ich auf dich warte.
    *
    Erst nachdem ich von deinem Vater weiß, verstehe ich deine Fotografien. Sie befremden mich nicht länger, sie sind mir nicht einmal mehr unheimlich. Trotzdem sehe ich sie mir nicht gerne an.
    Als du gemeinsam mit Lotta in einer kleinen Galerie, die einer Freundin Lottas gehört, eine Ausstellung veranstaltest, schaue ich mir statt der Bilder die Besucher an. Und irgendwann, da schaue ich versehentlich auch in deine traurigen Räume, und mein Blick wandert weiter; ich sehe dich, wie du dich sachlich mit einem Professor unterhältst und dich dafür bedankst, dass er gekommen ist. Und ich muss mich festhalten, an dem Betonpfeiler neben mir, denn ich spüre einen großen Druck, etwas will mich in Bewegung setzen, will, dass ich zu dir renne, mich an dich klammere, dir eine Schutzhülle, eine Rüstung bin, eine zweite Haut aus Stahl, die dich bewahrt und beschützt vor den Schrecken der Welt und der Gefahr, von innen her auseinanderzubrechen.
    Ich fürchte mich um dich.

Die vierte Geschichte:
    Das Fremde Meer

Das Meer ist grau, der Himmel auch. Wolken ziehen auf, verlieren ihre Grenzen und bilden eine dichte Decke. Es donnert, noch verhalten und weit entfernt. Bis auf den Jungen ist der Strand verlassen. Er läuft durch die Brandung und schlägt mit einem Stock in die Fluten. Erst als ein Blitz den Himmel erhellt, hebt der Junge den Kopf. Die ersten Tropfen fallen bereits, als er sich umdreht und losläuft, zurück zum Haus an den Klippen, wo die Eltern warten. Er ist noch kaum losgerannt, da bleibt er wieder stehen. Aus den Augenwinkeln hat er ein Funkeln bemerkt. Nachdem er ein paar Schritte zurückgelaufen ist, sieht er einen Schlüssel, halb verborgen im feuchten Sand. Er hebt ihn auf, vergisst den Strand, den Regen, den aufziehenden Sturm, betrachtet den Schlüssel, der nicht besonders schwer, nicht besonders groß in seiner Hand liegt. Erneutes Donnern lässt ihn aufschrecken, und er rennt los, Haken schlagend, den Schlüssel in der rechten Hand.
    Wenig später, als er im Hausflur steht, sagt die Mutter, wo bist du nur gewesen, sagt der Vater, warst du schon wieder allein am Strand, und der Junge nickt, den Schlüssel in der geschlossenen Faust. Weder Mutter noch Vater wird er ihn zeigen, wird er verraten, dass er durchnässt wurde und beinahe vom schnellen Wind erfasst, weil er etwas fand, weil er etwas funkeln sah im Sand.

X Jahre später:
    Er kommt durch die Nacht, er kommt aus dem Meer. Nachher wird niemand im Dorf sagen können, wo und ob er tatsächlich über Bord ging, ob er viele hundert Meilen tauchte, ohne ein einziges Mal Luft zu holen, ob er schwamm, unermüdlich Zug um Zug zurücklegte, ob er angespült wurde, prustend und nach Luft schnappend oder bereits bewusstlos.
    Das Meer hält inne für ihn und gibt ihn frei und zieht sich zurück. Er hat einen langen Weg zurückgelegt, ist erschöpft und müde. Im nassen Sand verliert er den Halt, stolpert und fällt. Reglos bleibt er liegen, schließt die Augen und lauscht auf die Stille.
    Es wird nun nicht mehr lange dauern, bis sie ihn finden.
    *
    Am Morgen nach dem Sturm entdecken die Frauen einen Fremden in der Brandung. Sie laufen über dunklen Sand, auf der Suche nach den verschwundenen Vätern, Söhnen und Brüdern. Stattdessen finden sie einen mit blasser Haut, schwarzem Haar und einem Gesicht, das sie noch nie gesehen haben.
    Sie finden Milan.
    Die Frauen heißen Nora, Anna und Helen. Die Kleider kleben ihnen schwer und nass an der Haut, sie tragen Tücher, Capes, Stiefel und Handschuhe, um sich gegen die Kälte zu schützen. Obwohl die Temperatur weit unter null liegt, gehen sie jeden Tag an den Strand, und das

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