Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
einfällt, will er zu Milan sagen, dann erzähl mir alles. Wenn es dir wieder einfällt, dann weck mich, auch wenn es mitten in der Nacht ist, und erzähl mir alles, alles, was du weißt, was du gesehen hast. Ich will alles erfahren über den Ort, den du dein Zuhause nennst. Und wenn es dir wieder einfällt und du beschließt zu gehen, Perthun zu verlassen, dann weck mich, nimm mich an die Hand und nimm mich mit.
Milan nickt. So als hätte Yann die Worte nicht bloß gedacht, sondern jedes einzelne ausgesprochen.
*
Auch tagsüber hellt der Himmel über Perthun kaum merklich und nur für wenige Stunden auf. Die Nacht bricht weniger herein, als dass sie sich einschleicht.
Vom Gasthaus aus läuft Anna nach Hause, zur ehemaligen Pension. Vor langer Zeit, als man noch glauben konnte, irgendwer käme freiwillig nach Perthun, eröffnete Annas Großvater die Pension. Was bedeutet: Er kaufte eines der leer stehenden Häuser und ließ seine Frau ein Schild (»Pension«) über der Tür aufhängen. Obwohl seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten, kein Gast mehr in der Pension übernachtet hat, stehen in jedem der Zimmer noch ein Bett, ein Tisch, ein Schrank. Niemand ist auf die Idee gekommen, die Räume für etwas anderes zu nutzen; leer stehende Häuser gibt es in Perthun genug.
Nach dem letzten großen Kälteeinbruch vor einigen Wochen hat Anna aufgehört, das gesamte Haus zu heizen, und beschränkt sich auf das kleinste Zimmer, gleich unterm Dach. Hier verbringt sie die Tage und Nächte, isst und schläft sie.
Durch den klammdüsteren Flur eilt sie hinauf und setzt sich in den Sessel zwischen Ofen und Fenster. Sie beginnt, alte Socken zu stopfen, doch schon nach wenigen Minuten werden ihr die Hände kalt, die Finger steif, und sie lässt die Nadel sinken. Eine Weile schaut sie aus dem Fenster, und der Anblick der sich hoch türmenden Wolken macht sie schläfrig. Ihre Lider senken sich, ihr Mund klappt auf, als sie ein Geräusch zusammenfahren lässt. So lange schon hat sie diesen schrillen, aufdringlichen Ton nicht mehr gehört, dass sie ihn erst nach einigen Sekunden erkennt:
Jemand ist im Haus.
Jemand steht an der Rezeption.
Jemand hat die Klingel bedient.
Die Nadel in der einen Hand, den löchrigen Socken in der anderen, verharrt Anna reglos. Als es erneut klingelt, steht sie vorsichtig auf, geht zur Tür, öffnet sie so leise wie möglich und horcht ins Haus.
In der unteren Etage steht ein Mann. Sie kann ihn hören: nicht seinen Atem, nicht seine Stimme, sondern seinen schweren Körper und die Luft, wie sie um ihn knistert.
Anna steht still. Sie könnte die Tür verriegeln und abwarten. Sie könnte aus einem der Fenster klettern, und weiter die Außenmauer hinunter. Sie könnte um Hilfe rufen und hoffen, dass jemand im Dorf sie hört, dass die Frauen bei ihr sind, bevor es der Fremde ist.
Hektisch sieht sie sich in dem kleinen Raum um; jeden Moment wird er ein drittes Mal klingeln, und bevor es dazu kommt, muss sie sich für eine der Möglichkeiten entschieden haben.
Die Stricknadel in den Rockfalten versteckt, bemüht um einen gemächlichen Gang, geht sie durch den Flur und die Treppe hinunter.
Der Mann steht neben der Empfangstheke, hinter ihm lauert ein vierbeiniger Schatten, ein geräusch- und geruchloses Tier, ein grauer, großer Hund. Er sieht wie die Wölfe aus, die Anna sich vorgestellt hat, wenn ihr die Mutter aus Märchenbüchern vorlas. Später, wenn sie versuchen wird, den Fremden den Frauen gegenüber zu beschreiben, wird sie die richtigen Worte nicht finden. Groß und schwarz gekleidet sei er gewesen, wird sie sagen. Weiter wird ihr nichts mehr einfallen.
Er sei ein Tourist, behauptet der Fremde. Er interessiere sich für Fischerdörfer. Ob noch ein Zimmer frei sei?
Anna nickt. Sie sucht nach einem Wort, aber ihr fällt kein einziges ein. Weder kann sie die Lippen schließen noch einen Ton zwischen ihnen hindurchschieben.
Der Fremde lässt sich von ihr ein Zimmer zeigen. Nachdem er genickt und ihr Geld für eine ganze Woche gegeben hat, lässt Anna den Schlüssel in seine hohle Hand fallen. Berühren will sie ihn nicht. Sie wartet, bis die Zimmertür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, dann stiehlt sie sich aus der Pension und läuft so schnell sie kann zum Gasthaus, um den Frauen von der Ankunft des Fremden zu berichten. Am selben Tag sind zwei Fremde nach Perthun gekommen. Zwei Fremde, das sind genau zwei mehr als in den letzten zwanzig Jahren. Und das ist nicht bloß seltsam,
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