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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Klippen steht ein wenig außerhalb, und den Frauen ist es recht, den Fremden vorerst aus dem Dorf zu bringen.
    Sie legen ihn auf die Trage, die sie vor Wochen gebaut haben. Anders als erhofft, hieven sie keinen Zurückgekehrten, sondern einen Fremden auf den rauen Stoff. Yann hilft ihnen, obwohl sie die Hilfe kaum brauchen: Milan ist so leicht, dass man unter seiner Haut keine Knochen, keine Muskeln und Organe, sondern Federn und Luft vermuten könnte.
    Der Weg zum Haus an den Klippen ist steil, der Boden aufgeweicht vom Regen, der Wind stark. Zwei Mal rutscht ihnen die Trage aus den Händen, doch ungeachtet des Ruckelns und der Stöße bleiben Milans Augen geschlossen. Oben angekommen, klopft Yann.
    Helen sieht den Frauen wortlos zu, wie sie die Trage durch den Flur in die Wohnstube bringen. Yann entgeht ihr Blick nicht und auch nicht ihr Kopfschütteln. Weil er vor den Augen und Ohren der Frauen keinen Streit anfangen will, gibt er vor, beides nicht zu bemerken. Den Frauen gegenüber behauptet er zum Abschied: »Wenn er aufwacht, dann komme ich zu euch.«
    Nachdem die Frauen gegangen sind, versucht Yann, sich beiläufig davonzustehlen, doch Helen versperrt ihm den Weg zur Treppe.
    »Warum ist er hier?«, fragt sie und deutet auf die Trage.
    Yann zuckt die Achseln, obwohl er verstanden hat, dass sie nicht von Milans Auftauchen in der Brandung spricht, sondern wissen will, warum er einen Fremden ins Haus gebracht hat. Als sie ihn weiter ansieht, weder zu Boden schaut, noch zur Seite tritt, antwortet er: »Wir bewachen ihn.«
    Helen hebt eine Augenbraue und öffnet den Mund, tritt dann aber stumm zur Seite. Schnell geht Yann die Treppe hinauf. In Gegenwart der Mutter findet er nie die Stimme des Vaters. In Gegenwart der Mutter spricht er immer wie einer, der sich selbst nicht glaubt.
    *
    In der Woche zuvor war er mitten in der Nacht aufgewacht.
    Er fuhr hoch, als hätte ihn jemand geweckt, im Haus aber war es totenstill. Nach dem Aufwachen, dem Hochfahren, dem rastlosen In-den-dunklen-Raum-Starren, dem ruhelosen In-den-dunklen-Raum-Horchen konnte er nicht wieder einschlafen. Etwas, das Hunger und Durst ähnelte, aber keins von beidem war, hielt ihn wach. Er schlich in die Küche, aß eine Kartoffel, trank einen Schluck Wasser. Nichts von beidem half. Leise, um Helen nicht zu wecken, begann er, nach dem Koffer des Vaters zu suchen, fand aber nur den des Großvaters.
    Er packte wahllos. Packte ratlos. Auch als er verstand, dass er den Koffer bloß in eine Ecke stellen und sich wieder ins Bett legen würde, konnte er nicht aufhören, Pullover zu falten und im Inneren des Koffers zu verstauen. Als er fertig war, schloss er den Koffer und versteckte ihn im Schrank.
    Wenig später lag er wieder in seinem Bett. Sein Herz schlug laut, und seine Hände waren kalt und feucht – dabei hatte er während des Packens doch keine Sekunde geglaubt, dass er tatsächlich aufbrechen würde. Nicht wegen der Mutter, nicht wegen seiner Freunde, Carl und Ari. Sondern bloß wegen ihm selbst und weil er wusste, dass er nichts wusste, über die Welt und ihre Länder, ihre Städte und Grenzen. Nur dass man unendlich leicht dort draußen verloren gehen konnte, das hatte er verstanden.
    *
    Das ist es, was die Frauen glauben:
    Ohne dass jemand es gesehen oder gehört hat, ist das Meer verschwunden. An seine Stelle ist ein neues, ein fremdes Meer getreten. Fische gibt es darin nicht. Keine Muscheln und keine Seesterne. In dem fremden Meer gibt es bloß das Fremde. Das, was keinen Namen hat und nur des Nachts und nur im Dunklen aus den Fluten steigt. Darum verriegeln die Frauen Türen und Fenster, wenn die Sonne untergeht. Hinter Vorhängen lugen sie hervor und sehen im schwachen Mondlicht vielleicht Schatten, schnelle Bewegungen, und in klaren Nächten lauernde Augen und schuppige Haut.
    Das ist es, was die Frauen glauben, denn etwas anderes zu glauben, ist ihnen nicht möglich:
    Die Männer Perthuns sind nicht gegangen. Sie haben keine Koffer gepackt und keine Entscheidungen getroffen. Sie haben nicht beschlossen, die Frauen, die Kinder, die leeren Straßen und das sterbende Dorf zu verlassen. Die Männer wurden geholt, etwas ist aus dem fremden Meer gekommen und hat sie sich genommen.
    *
    Unbeobachtet von Yann, der in der Küche steht und an den Koffer denkt, öffnet Milan die Augen. Er setzt sich auf, wartet still, wie auf ein Zauberwort, ein Zeichen. Als Yann den Raum betritt und Milan auf der Trage sitzen sieht, stolpert er vor Schreck zurück

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