Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
und gegen den Türrahmen.
Yann starrt, Milan blinzelt, keiner bewegt sich.
»Sprichst du meine Sprache?«, fragt Yann schließlich.
Milan kratzt ein Wort zusammen, das rostig und ungeübt klingt. »Ja«, sagt er.
Unsicher steht Yann im Türrahmen. Er schaut nicht Milan an, sondern an ihm vorbei, damit ihm nicht, wie schon unten im Gasthaus, der Atem und die Worte abhandenkommen und er bloß noch Haut und Knochen ist und ein Herz, das haltlos hämmert. Es ist, als hätte er sich verliebt, nicht innerhalb von Tagen oder Wochen, sondern in einem einzigen Augenblick. Dabei glaubt er nicht, dass man sich innerhalb eines Augenblicks in jemanden verlieben kann, erst recht nicht, wenn der andere bloß daliegt, nichts sagt oder tut, nicht einmal die Augen öffnet.
»Yann«, sagt Yann und fügt hinzu: »Das ist mein Name.«
»Milan«, sagt Milan.
Milan – das sagt Yann nichts, und er versteht, dass er wohl dachte, der Name des Fremden würde wie ein Schlüssel funktionieren. Es würde sein, hatte er gedacht, wie wenn man in der Ferne ein Gewirbel, ein Chaos sieht, und dann sagt jemand: Das ist ein Hund. Das ist ein Baum. Und das Wort, die vier Buchstaben erschließen den Gegenstand und machen ihn klar.
»Du bist hier angespült worden«, sagt er. »In Perthun.«
Milan nickt.
»Warst du schon mal hier?«, fragt Yann, obwohl er weiß, dass Milan noch nie in Perthun gewesen ist. An einen wie ihn könnte man sich erinnern. Tatsächlich könnte man sich wohl an jeden erinnern, sei er auch nur auf der Durchreise gewesen. Nach Perthun kommen keine Touristen, keine Reisenden. Perthun ist kein schöner Ort, und die Bewohner sind nicht gastfreundlich. Es gibt keine Restaurants, keine Strandpromenade, keine kleinen Cafés. Das Gasthaus ist ein leeres Gebäude, in dem sich die Perthuner jeden Sonntag treffen, um die neusten Katastrophen zu besprechen.
»Ich glaube nicht, dass ich schon einmal hier war«, sagt Milan. »Aber manchmal verliere ich den Überblick.«
»Du bist viel unterwegs?«
Milan nickt und streicht über den feuchten Stoff der Trage. Er lässt den Blick über die wenigen Möbel wandern, über den Teppich bis hin zu den Fenstern. Yann unterdessen sucht Milans Körper möglichst unauffällig nach Auffälligkeiten ab, kann aber weder Schuppen noch Schwimmhäute entdecken. Kurz ist er erleichtert, dann fährt er zusammen wie ein Ertappter. Er presst die Hände gegen das Gesicht, versucht sich zu sammeln und einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es bleibt unklar, warum ihm die Narbe über Milans linker Augenbraue so vertraut erscheint, als sei er bereits hundert Mal mit den Fingern darübergefahren. Es bleibt unklar, wieso er die Haustür verriegeln und niemanden hereinlassen will, nicht Helen, nicht die Frauen, nicht Carl oder Ari. Es bleibt unklar, warum er plötzlich weiß: Sollte er an Milan eine schillernde Schuppe bemerken, einen Tropfen blauen Blutes oder dass Milans Adern silbern schimmern unter durchsichtiger Haut, liefe er nicht zum Gasthaus zurück, um den Frauen Bescheid zu geben, ihren Verdacht zu bestätigen. Er bliebe hier sitzen, und Milans Geheimnis würde zu seinem werden.
Rufe von draußen lassen ihn auffahren. Er erkennt die Stimmen von Carl und Ari. Außer diesen beiden traut sich kaum einer, laut zu sein, zu schreien, zu singen, zu rufen. Das ganze Dorf hat sich in ein Flüstern, ein Wispern verstrickt. Während die Frauen denken, man müsse still sein und sich wenig bewegen, damit das Meer nicht auf einen aufmerksam wird, sind Yann, Carl und Ari in den letzten Monaten lauter geworden, haben versucht, gegen die Stille anzulärmen. Nur ist die wie ein Fass ohne Boden: Gleich, wie viele Worte man hineinwirft, sie werden doch alle geschluckt.
Yann tritt ans Fenster und sieht, wie Carl und Ari sich gegenseitig den Weg nach oben jagen. In einer Minute, vielleicht zwei, werden sie beim Haus sein. Als er sich umdreht, stellt er erschrocken fest, dass Milan aufgestanden ist. Ob er sich immer nur dann bewegt, wenn man ihm den Rücken zukehrt? Plötzlich sieht Yann die kommenden Minuten, sieht, wie Carl Milan »nur ein paar Fragen stellen will«, wie Milan behauptet, »viel herumgekommen« zu sein und dass er sich nicht daran erinnern könne, wie und warum er an Perthuns Küste gestrandet ist. Wie er lächeln wird, sein Lächeln, das nichts verrät und gleichzeitig alles. Wie Carl sich vor ihm aufbaut und nach Antworten verlangt. Das alles sieht Yann, und er hört sich sagen: »Da draußen sind
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