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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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ungewöhnlich oder unheimlich, sondern unmöglich.
    *
    Vor dem Abendbrot schleift Yann die Matratze, auf der zuletzt der Vater schlief, durchs Haus. Während er sie auf den Boden seines Zimmers legt und mit einem Laken bespannt, betrachtet ihn Helen mit verschränkten Armen. Milan könne doch auch in der Wohnstube schlafen, bemerkt sie schließlich.
    Yann schüttelt den Kopf. Er habe den Frauen versprochen, ihn nicht aus den Augen zu lassen.
    Später am Abend essen sie gemeinsam in der kleinen Küche. Kartoffeln, keinen Fisch. Immer wieder ertappt Yann sich dabei, Milan anzustarren, als müsse er sich vergewissern, dass es den anderen tatsächlich gibt. Ihm gegenüber sitzt der erste Fremde, den er je gesehen hat. Und dass Milan nicht aus Perthun kommt, das lässt sich sehen und hören. Seine Züge sind feiner, sind schärfer, die Kanten genauer, die Schatten tiefer. Die Gesichter der Perthuner scheinen mit gröberem Pinselstrich gezeichnet. Ähnlich verhält es sich mit Milans Sprache: Die Worte gehen ihm übergenau und deutlich von den Lippen. Es ist kein Akzent, kein Dialekt, der ihn fremd klingen lässt. Im Gegenteil, Milans Sprache ist rein, sie ist poliert. Aber Yann müsste Milan nicht einmal sprechen hören oder ihn ansehen, um von seiner Fremdheit zu wissen. Es ist ein besonderer Geruch, der ihn umgibt. In Perthun riecht alles salzig und nach den Fischen, die seit langem verschwunden sind. Milan aber, Milan riecht nicht nach Salz, nicht nach Fischen, nicht nach Algen und nicht nach dem Meer, aus dem er gekommen ist, sondern nach der Stadt, nach der Welt. Yann atmet den Geruch ein und stellt sich vor, wie dieser ihn von innen her füllt, ihn Teil von etwas Großem werden lässt.
    »Wie ist es in Trouwen?«, fragt Helen unvermittelt. Yann hebt überrascht den Kopf. Woher weiß Helen von Trouwen? Hat sie mit Carl und Ari gesprochen, oder haben sich die Frauen bereits im Gasthaus ausgetauscht?
    »Ähnlich wie hier«, behauptet Milan und fährt fort, Kartoffeln zu zerkleinern und von Tellerrand zu Tellerrand zu schieben.
    Helen wartet darauf, dass Milan den Ort erklärt, ihn beschreibt. Auch Yann wartet; er fürchtet um jedes Wort, das Milan über die erdachte Heimat sprechen könnte. Zweimal scheint Milan anzusetzen, etwas zu sagen, doch beide Male rückt er bloß seinen Stuhl zurecht. Er lächelt, isst wenig, bewegt sich noch weniger, sagt nichts.
    »Vorhin habe ich Anna am Strand getroffen«, sagt Helen, als sich abzeichnet, dass er nichts hinzufügen wird. »Sie hat erzählt, dass jemand in die Pension gekommen ist. Ein Mann mit einem Hund.«
    Milans Gabel bleibt auf halber Höhe hängen. Der Winkel, in dem er den Kopf hält, verändert sich kaum merklich.
    »Er hat nach dir gefragt«, sagt Helen zu Yann. Noch immer lässt sie Milan nicht aus den Augen. »Anna sagt, ich soll dich von ihm grüßen.«
    Yann verzieht den Mund, sieht die Mutter ratlos an. Außerhalb Perthuns kennt er niemanden.
    Helen erzählt weiter: Weil der Fremde keinem im Dorf seinen Namen verraten hat, nennen die Perthuner ihn den Touristen, obwohl niemand ihn für einen solchen hält. Dass ein Reisender mit einer Passion für pittoreske Fischerdörfer sich ausgerechnet Perthun als Reiseziel aussuchen würde, erscheint Yann unwahrscheinlich. Zugegeben, er ist nie selbst ein Tourist gewesen und kann nur spekulieren, wie er sich auf Reisen, in einem fremden Land verhielte. Er vermutet aber, dass man als Tourist mehr über die Bräuche und Sitten der Bevölkerung wissen wollen würde, sich etwa mit den Ortsansässigen unterhielte. Doch Helen berichtet, dass der Tourist den Perthunern aus dem Weg gehe, das Dorf schnellen Schrittes durchquere, nicht nach rechts schaue und nicht nach links. Den Mantelkragen trage er hochgeschlagen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass der Mensch unter dem Mantel verborgen bliebe und niemand sein Äußeres beschreiben könne.
    »Als ob er nicht erkannt werden will«, sagt Helen und runzelt die Stirn. Wen außer sich selbst sollten die Perthuner schon erkennen können? Und es steht außer Frage, dass der Tourist keiner von ihnen ist. Sein Gang, seine Haltung sind ihnen nicht vertraut. Seine Stimme, ihr Klang, ihre Färbung, die Art, wie er die Wörter ausspricht und die Silben betont, ist den wenigen, die ihn bisher haben sprechen hören, so fremd, dass ihnen die Wörter selbst zu Rätseln, zu verschlüsselten Zeichen werden. Obwohl der Tourist die Buchstaben Perthuner Konventionen gemäß anordnet,

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