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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Freunde von mir. Gleich, wenn sie hier sind, musst du sagen, dass du aus einem der Fischerdörfer im Norden kommst.«
    Milan antwortet nicht.
    »Denk dir einen Namen aus. Keiner hier kennt sich dort aus, wir kommen nie raus aus Perthun. Und –«
    Draußen wirft sich Carl gegen die Tür. Das gehört zum Spiel: Weil sie alle immerzu Angst haben, ängstigen sie gern andere und sich gegenseitig. »Mach auf«, ruft Carl und drängt an Jan vorbei in die Wohnstube, kaum dass Yann ihm die Tür geöffnet hat. Ari folgt ihm, seinen Schritt aber nur halbherzig nachahmend.
    Einen Augenblick sieht es aus, als wolle Carl auf Milan zustürmen. Dann bleibt er abrupt in der Mitte des Raums stehen. »Der ist wach?«, fragt er.
    Yann nickt. »Gerade eben erst.«
    »Wo kommt er her?«, fragt Carl. Er spricht zu Yann, ohne Milan aus den Augen zu lassen.
    »Aus einem Fischerdorf im Norden«, sagt Milan, bevor Yann antworten kann. »Trouwen«, sagt Milan, spreizt die Hände und begutachtet seine Finger, als hätte er sie gerade erst entdeckt.
    Trouwen, sagt Milan, und einen Moment taucht dieser Ort vor Yann auf. Trouwen wird wahr, wird zu einem Dorf, ähnlich wie Perthun – vielleicht ein wenig stiller, vielleicht ein wenig kälter. Trotzdem friert dort niemand. Obwohl die Luft eisig ist, scheint die Sonne, und die Trouwener selbst sind temperaturunempfindlich. Ihre Körper müssen sich den Wetterbedingungen in einem jahrhundertelangen Prozess angepasst haben. Oder sie tragen besondere Kleidung, gewebt aus einem Stoff, der sie vor allem schützt, der sie gleich einer Rüstung, nur leichter, nur weicher, für die Welt und ihre Widrigkeiten unantastbar macht. Danach muss ich Milan fragen, denkt Yann, bis ihm einfällt: Trouwen ist bloß eine Erfindung, vor wenigen Sekunden, in diesem Zimmer entstanden.
    »Nie gehört«, sagt Carl, »kenn ich nicht.«
    In der Zwischenzeit scheint Ari den Boden auf verräterische Zeichen hin abzusuchen, eine schimmernde Schuppe oder eine Spur nasser Fußstapfen. Ihre Augen wandern zu Milan, über weißen Stoff zu weißer Haut.
    »Die Frauen wollen mit deinem Freund reden«, sagt Carl. »Warum hast du ihn noch nicht zurück ins Gasthaus gebracht?«
    »Er ist gerade erst aufgewacht«, antwortet Yann.
    »Aber jetzt ist er wach.«
    »Ja«, bestätigt Yann. Genau wie unten im Gasthaus spürt er ein Ziehen, einen Druck, einen großen Unwillen, über Milan zu sprechen, ein Verlangen, ihn zu schützen.
    »Dann nehmen wir ihn am besten gleich mit«, sagt Carl.
    Milan hinter Yann steht wie einer, der genau weiß, dass er nirgendwo hingehen wird.
    »Nein«, sagt Yann. Bloß das eine Wort, weitere fallen ihm nicht ein. »Noch nicht«, fügt er unsicher hinzu.
    Ari tritt einen Schritt zurück. In Perthun eskalieren Konflikte schnell, kann schon ein kleiner Zwist zu Handgreiflichkeiten führen. Doch Carl hebt die Hände.
    »Aber morgen«, sagt er, »morgen musst du ihn ins Dorf bringen.«
    Schweigend kaut Yann auf seiner Unterlippe. Erst als Ari ihn ansieht, antwortet er. »Morgen ja.«
    Ari setzt ihre Kapuze auf und tritt nach draußen. Bevor Carl ihr folgt, wirft er Yann einen Blick zu, und in dem Blick liegt etwas, ein Verdacht, als hätte sich soeben etwas bestätigt, das Carl schon lange vermutet hat. Während Yann ihnen in den Flur folgt, die Tür hinter ihnen schließt und verriegelt, fragt er sich, ob Carl von dem Koffer weiß.
    *
    Draußen hört Yann den Regen prasseln und erinnert sich an die Zeit, als es noch Tage zwischen den Stürmen gab, Tage, an denen sich das Wetter zurücklehnte, die Sonne eine Stunde, vielleicht auch zwei schien, die Luft mild und klar war.
    »Trouwen«, sagt Yann. »Das ist dir schnell eingefallen.«
    Milan neigt leicht den Kopf, als horche er in die Ferne, als könne er durch den Regen Ari und Carl auf ihrem Weg zurück ins Dorf belauschen.
    »Was denkst du«, fragt er, »wo ich herkomme?«
    Yann atmet ein und aus, er atmet schwer. Seit Monaten hört er sich selbst laut atmen. Er klingt wie der Vater, der selten sprach, aber immer stöhnte und seufzte, schnaufte und ächzte. Man kann schweigen und dabei einen ganzen Raum mit Geräuschen füllen. Trouwen, denkt er und will sich weiter an diesem Ort festhalten. In Trouwen, stellt er sich vor, taucht alles auf, was hier oder sonst in der Welt verschwunden ist. Die Fischer Perthuns wandern durch Trouwens stille Straßen.
    »Ich weiß nicht«, sagt Yann und schüttelt den Kopf. »Aber wenn es dir wieder einfällt –« Wenn es dir wieder

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