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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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nassen Holz auf. Als er die Augen öffnet, sieht er die Nacht über sich und das feine Netz der Sterne. Milan über ihm, neben ihm, fragt ihn etwas, seine Lippen bewegen sich, aber noch klingt Yann die Stille so laut in den Ohren, dass er weiter nichts verstehen kann. Er schließt die Augen.
    Es gibt nichts mehr zu fürchten.
    Er ist geborgen worden.

Die fünfte Geschichte:
    Lethe
    Unsere Biologie hat es noch nicht entscheiden können, ob der Tod das notwendige Schicksal eines jeden Lebewesens oder nur ein regelmäßiger, vielleicht aber vermeidlicher Zufall innerhalb des Lebens ist.
    Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, 1919

Wir begrüßen dich an Bord der Evicon 23.
    Du stehst an der Reling und schaust in die grauen Fluten. Diese aufgewühlten Wasser sind dir vertraut, und es scheint dir, als seist du einmal darin geschwommen. Du erinnerst dich, dass jemand deine Hand hielt und dich mit sich zog. Mit deinen Augen tastest du das Meer ab. Wonach suchst du? Nach einem Koffer, einem Menschen, einem Rettungsboot?
    Du weißt es nicht. Aber da ist dieses Gefühl, etwas verloren zu haben. Gerade hast du noch gewusst, was es war, hast gedacht: Ich darf das nicht vergessen. Und: Ich muss mich daran erinnern.
    Viele hundert Meter unter dir reihen sich Meilen von Blau aneinander. Du kannst keinen Wal erspähen und keinen Schiffbrüchigen, keine Insel und keine Ufer. Du trittst einen Schritt von der Reling zurück. Als hätte dich jemand dazu aufgefordert, tastest du in deine Hosentasche und ziehst einen Zettel hervor. Er wurde so oft gefaltet, dass er klein und hart in deiner Hand liegt. Du faltest ihn auseinander, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Nun siehst du: verschmiertes Weiß und zarte, graubraune Linien, dort wo der Zettel vor langer Zeit gefaltet wurde.
    Dreh ihn um!
    Auf der Rückseite steht in flattriger Spinnenschrift: »Frag nach Mare«. Der Name sagt dir nichts. Aber das ist nicht weiter verwunderlich. Du weißt ja nicht einmal, wer du selbst bist.
    Zumindest eines können wir dir verraten: Dein Name lautet Jasper.
    Lass uns zu deiner frühsten Erinnerung zurückkehren. Was weißt du noch? Nichts? Und du hast keine Idee, warum du hier bist? Eben gerade, vor wenigen Sekunden, hast du vergeblich versucht, dich zu erinnern. Lass es uns noch einmal probieren, lass uns in der Zeit zurückgehen, streng dich an, und vielleicht wirst du dich ans Schwimmen erinnern. Daran, dass dich jemand mit sich zog, dass du eine Hand hieltest. Wessen Hand? Es war jemand, der dir sehr – jemand Wichtiges. Und du solltest – irgendetwas – irgendetwas hattest du nicht vergessen sollen. Und nun hast du es doch vergessen, aber das ist nicht weiter schlimm, wir sind ja hier.
    Wer wir sind?
    Wir sind die Stimmen, die Geister, die Echos von jemandem, den du einmal gekannt hast. Wir sind der Spuk in den Köpfen der Gespenster. Aber wer wir einmal waren, ist nicht weiter wichtig, es geht immer bloß um das Jetzt und um das, was sein wird.
    Und jetzt sollst du nach Mare suchen.
    Lauf, Jasper, die Zeit drängt. Und nimm dich vor dem Kapitän in Acht.
    *
    Noch nie ist ein Schiff, das Hunderte von Passagieren befördert, so still wie die Evicon 23 gewesen. Weil Jasper niemanden hört, keine Unterhaltungen, keine Rufe, ist er überrascht, als er den ersten Passagier entdeckt; weitere, sieht er kurz darauf, lehnen an der Reling. Auf dem Oberdeck geht ein kühler Wind, der an den Haaren zieht und an den Mänteln, aber niemand scheint sich daran zu stören.
    »Entschuldigung«, spricht Jasper einen der Passagiere an.
    Der Mann antwortet nicht. Sein Blick ist glasig und ohne Halt; er scheint im Stehen zu schlafen. Auch mit dem zweiten und dritten Reisenden, den er anspricht, ergeht es Jasper nicht anders. Er beschließt, seine Suche im Schiffsinneren fortzusetzen. Nur mit Mühe gelingt es ihm, die rostige, rote Tür aufzustoßen, durch welche er ins Treppenhaus und schließlich aufs achte Deck gelangt. Auch unter Deck halten sich zahlreiche Passagiere auf. Eine eigentümliche Gemeinsamkeit zeichnet sie aus, die Jasper nicht genau festmachen kann, womöglich nur ihre Kleidung, graue Mäntel, die sich kaum in Schnitt oder Farbgebung unterscheiden. Aber auch oberhalb der Mantelkrägen gleichen sich die Passagiere verdächtig, von der aschfahlen Haut bis zu den trüben, eingesunkenen Augen. Sie müssen Tage, Wochen oder Monate nicht geschlafen haben. Sind sie seekrank? Überhaupt krank? Steht das Schiff womöglich unter Quarantäne? Rutschige

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