Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
ein Wort, das sich wie ein Anker auswerfen lässt. Und das Wort ist:
Mare.
Jasper hält still, atmet flach, schlingt sich um vier Buchstaben und kettet sich an einen Namen und hebt sich darin auf. Während der Kapitän näher kommt, denkt er an Mare. Und die Lichter flackern nicht mehr, und der Boden zittert nicht mehr, und der Kapitän ist weitergezogen, wie ein Spuk.
*
Die Luft ist noch immer diesig und schwer, doch die Reisenden sind verstummt. Niemand seufzt oder stöhnt. Niemand, scheint es, trägt mehr einen Ton in sich.
Behutsam ordnet Jasper die tauben, schweren Glieder, erhebt sich aus seinem Stuhl und schleppt sich den Gang hinunter. Um seine Suche nach Mare fortzusetzen, wird er zunächst aufs unterste Deck hinabsteigen und sich dort umsehen.
Im Treppenhaus beginnen seine Zähne zu klappern. Er vermutet, dass ihm kalt ist, er vermutet, dass er friert. Mit Gewissheit sagen könnte er jedoch nichts über seinen Körper, über seinen Zustand. Und an jenes Gefühl, sich selbst entrückt zu sein, erinnert er sich, wenn auch nur vage und nicht so, wie man an seine eigene Vergangenheit zurückdenkt, sondern an die Geschichten der anderen, an Erlebnisse, die einem eindrücklich geschildert wurden, die man aber nicht selbst erfahren hat.
Zu der Erinnerung, zu dem tauben Gefühl gehört ein Bild, eine Kopfverletzung, eine Wunde, die genäht werden musste, und die örtliche Betäubung, die dem Eingriff voranging. Er meint sich zu entsinnen – weil er es erlebt hat oder weil ihm davon erzählt wurde –, wie es war, um den Schmerz zu wissen, ohne ihn tatsächlich zu erfahren. So wie er jetzt um die Kälte weiß, die ihm durch die Beine, durch die Arme kriecht, ohne dass er sie spürt.
Während er weitere Stufen zurücklegt, immer tiefer in den Schiffsrumpf vordringt, verliert er sich in der Betrachtung seiner Unterarme und der Gänsehaut, die sie bedeckt. So wenig Beachtung schenkt er seiner Umgebung, dass er die Wand am Ende der Treppen nicht bemerkt.
Der Aufprall lässt ihn zurücktaumeln und über die unterste Stufe stolpern. Mehr aus Gewohnheit, als weil sie ihn tatsächlich schmerzen würde, reibt er seine Stirn. Kein Blut, keine Beule. Verwundert betrachtet er die eisgraue Betonwand, die sich an genau jener Stelle befindet, welche den Übergang von Deck eins zu Deck null markiert. Noch immer argwöhnisch seine Stirn betastend, nähert sich Jasper ihr und klopft gegen den Beton. Als nichts geschieht, sich keine unsichtbare Tür öffnet und kein Alarm erklingt, beginnt er, die Fläche auf Unebenheiten abzutasten. Doch falls es einen geheimen Mechanismus, einen verborgenen Schalter oder Hebel gibt, findet er ihn nicht. Nachdem er eine Weile erfolglos getastet und gestrichen hat, beginnt er zu treten und zu fluchen. Mit einem Mal ist er überzeugt, ja, er hat keinen Zweifel, dass er Mare hinter dieser Wand oder überhaupt nicht finden wird. Obwohl er ahnt, dass die Wand nicht nachgeben wird, wirft er sich wieder und wieder gegen sie, so lange, bis die Wut verrinnt und er niedergeschlagen auf die unterste Stufe sinkt, den Kopf in den Händen vergraben.
Er muss ein paar Minuten so gesessen haben, als ihm jemand auf die Schulter klopft. Erschrocken hebt er den Kopf. Vor ihm steht einer, der anders aussieht als alle Passagiere, denen er bisher begegnet ist. Er ist weniger bleich, weniger durchscheinend. Die Farbe seiner Lippen unterscheidet sich von der Farbe seiner Augen, von der Farbe seiner Haare. Außerdem trägt er keinen Mantel, sondern – eine Uniform vielleicht? Ein weißes Hemd, eine weiße Hose, sogar seine Schuhe sind weiß. An seine rechte Brusttasche ist ein Namensschild gepinnt, auf dem steht: Per, Crew.
Per von der Crew schaut ihm tief in die Augen. Er starrt, ohne zu blinzeln oder zu zwinkern, so lange, bis Jasper fragend die Brauen zusammenzieht.
»Verzeihung«, sagt Per.
Jasper öffnet den Mund. Seine Knie zittern, seine Hände zittern. Er blickt auf beides hinab, zitternde Hände auf zitternden Knien, und bringt keinen Ton hervor.
»Kannst du mich hören, verstehst du mich?«, fragt Per. Und noch immer gelingt es Jasper nicht, zu antworten, den Kopf zu heben und zu nicken. Verzeihung kannst du mich hören verstehst du mich , denkt er und möchte jedes einzelne der acht Wörter einstecken, möchte es unter seiner Jacke verschwinden lassen und dicht bei sich tragen, um es jederzeit wieder hervorholen zu können, um es an sein Ohr zu halten und sich die Worte durch den Schädel rauschen
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