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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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scheint ihre Haut wächsern. Kühle Spinnwebfinger streichen Jasper über den Nacken. Was immer sie sieht, es ist im Gang hinter ihm. Ohne sich umzudrehen läuft er los, entfernt sich stolpernd und mit viel zu schnellen Schritten, fort von der Frau und hinein ins nächste Treppenhaus, die Stufen hinunter bis zum siebten Deck.
    Ein rostiges Schild informiert ihn, dass er die Lounge erreicht habe. Eine Sitzgruppe von Stühlen und Sesseln steht vor bodentiefen Fenstern, die hinaus in den wolkenverhangenen Himmel zeigen. Alle Sessel bis auf einen sind besetzt. Jasper lässt sich in das weiche Polster fallen und entscheidet, seine Suche vorerst zu unterbrechen. Gut möglich, dass Mare in der Lounge auftaucht – oder schon hier ist. Unsicher, ob er nach einem Mann oder einer Frau, einer großen oder kleinen, einer alten oder jungen Person Ausschau halten sollte, sieht Jasper sich um. Keiner unter seinen Sitznachbarn sticht hervor.
    Während Jasper auf Mare gewartet hat, muss er eingeschlafen sein, denn eine Berührung, ein kaum wahrnehmbares Kitzeln lässt ihn erschrocken auffahren. Eine langbeinige Spinne überquert seinen Handrücken. Hastig schüttelt er sie ab und sieht sich um. Der Mann im Sessel neben ihm ist in sich zusammengesackt. Er seufzt und stöhnt. Die anderen Passagiere fallen in die Laute ein, und ihre Seufzer fließen ineinander. Er sollte aufstehen, denkt Jasper, sollte die Lounge auf der Stelle verlassen. Die Lampen an den Wänden flackern, Schatten kriechen über den fleckigen Teppich und die grauen Wände. Und was Jasper dann sieht, passt in kein Raster, nicht in Worte oder Sätze, es entzieht sich allen Zeichen. Unweit entfernt verdichtet sich die Nacht zu einem Punkt, sie nähert sich ihm als dunkles Licht, als schimmernde Schwärze. Ein Flimmern geht ihr voraus, es gleicht einem aufgebrachten Insektenschwarm. Allmählich formen sich die Umrisse einer Gestalt. Mit schweren Schritten nähert sich einer, der kein Mann, kein Mensch, kein Tier, kein Geist ist.
    Der Kapitän, denkt Jasper, und der Raum ist wie aufgeladen. Nicht mehr nur die Lampen an den Wänden flackern, sondern auch die Passagiere auf ihren Stühlen. Sie zucken und zappeln, werden rast- und ruhelos. Der Mann neben Jasper drückt den Rücken gegen die Sitzlehne, lässt den Kopf von einer zur anderen Seite rollen. Seine Augen sind geschlossen, sein Mund geöffnet, als hätte er sich einen Albtraum eingefangen, den er vergeblich versucht abzuschütteln. Auch Jasper fühlt die Unruhe. Etwas drückt von innen gegen die Haut, tobt durch die Knochen. Er kann nicht mehr still sitzen, doch bewegen kann er sich auch nicht, nicht aufspringen und davonrennen, nicht einmal den Kopf abwenden. Ein Unsichtbarer hält ihn im Klammergriff, pinnt ihm die Lider fest. Schon füllt die Gestalt des Kapitäns sein Blickfeld. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, reicht er bis in alle Winkel des Raumes. Die Luft muss weichen, das Licht, jedes Teilchen, das nicht schon zu ihm gehört. Haut und Kleidung scheinen übergangslos ineinanderzufließen. Die Oberfläche seines Mantels, seiner Stiefel, seines Gesichts glänzt. Jasper vermutet, dass sie sich kühl, glatt und feucht anfühlen würde, wie Fensterscheiben im Winter. Der Kapitän scheint nicht aus Fleisch, Blut und Knochen, sondern einem fremden, unvorstellbar schweren Material gefertigt. Die Reisenden sind ihm nur papierne Figuren, die er zusammenfalten oder entzweireißen könnte.
    Wir rufen dir zu: Schau nicht hin.
    Du tust wie geheißen und senkst den Kopf, während wir weiter geradeaus starren; wir wollen das Gesicht des Kapitäns sehen. Unter der Mütze und dem dunklen, strähnigen Haar vermuten wir Löcher ohne Grund. Noch einen Moment, noch eine Sekunde! Dann sollten sich die unstimmigen Einzelteile zusammenfügen, Augen, Mund und Nase ein Gesicht formen. Doch nichts verbindet sich. Alles ist, wo es sein sollte, und ergibt dennoch keinen Sinn. Wir sehen, ohne zu erkennen. Noch entzieht sich der Kapitän den Worten. Erst im Nachhinein werden wir versuchen können, ihn in Buchstaben zu sperren, werden wir sagen: Seine Haut war aschfahl, sein Mund bloß ein Strich; und dass uns sein Gesicht wie eine Häuserfassade aus Pappe schien, eine Attrappe, hinter der niemand lebt.
    Während du zu Boden schaust, wird dein Körper taub, dir ist, als sei das Wasser über die Reling und bis in dein Innerstes geschwappt. Denk nicht an den Kapitän. Wenn es in deinem Schädel surrt und juckt, brauchst du ein Gefühl,

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