Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
unten.
Die Tür öffnet sich.
Yann schleicht die Treppe hinunter, und keine der Stufen knarrt. Er muss nicht niesen und nicht husten. Fast, meint er, nicht zu atmen.
Er stiehlt sich an der Wohnstube vorbei, sieht Ari und Helen, wie sie beieinandersitzen, flüsternd. Einen Moment will er stehen bleiben, dann geht er weiter, bis zur Haustür, die er während des Öffnens ein wenig anhebt, damit sie nicht knarrt und nicht quietscht. Draußen schlagen ihm die kalte Luft und der Regen entgegen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, schnell läuft er den schmalen Weg zum Strand hinunter.
*
Yann sitzt im Sand, sieht hinaus auf das Meer und friert. Es ist beinahe halb drei. Oben in seinem Zimmer, auf dem Boden liegend, hat er nicht an Milan gezweifelt. Er wird kommen, hat er gedacht, er wird. Hier unten am Strand ist ihm die Zuversicht abhandengekommen. Bald wird jemand bemerken, dass Yann verschwunden ist; vielleicht steht der Tourist bereits an seinem Fenster und blickt auf ihn herunter, so wie Yann selbst unzählige Male dort oben gestanden hat. Er sieht zum Haus hinauf. In seinem Zimmer brennt kein Licht, der Raum hinter der Scheibe ist dunkel. Auch der steile Weg zum Strand hinunter ist verlassen. Yann sieht Muscheln, seine eigenen Fußabdrücke, Unmengen von Sand, nachtschwarze Luft, Milan aber sieht er nicht. Und dann, von einer Sekunde zur nächsten, verstummt die Welt. All die kleinen Geräusche, die der Wind und der Regen und das Meer in die Luft gelegt haben, verschwinden. Yann springt auf und späht ins Dunkel. Am anderen Ende des Strandes taucht eine hochgewachsene Gestalt auf. Durch ihr Erscheinen scheint sich keine Leere zu füllen, sondern bloß eine neue aufzutun. Yann springt auf und fährt herum, überzeugt, auch Milan müsse nun gekommen sein. Doch sieht er nichts weiter als Klippen und den tiefhängenden Mond. Der entscheidende Moment ist verstrichen, versteht er. Selbst wenn Milan aus den Schatten hervorträte, käme er zu spät. Der Weg zum Dorf, zur Nordstadt und zur Welt ist bereits abgeschnitten. Yann lässt sich zurück in den Sand fallen. Statt dem Touristen zuzuschauen, wie er gemächlich über den Strand auf ihn zukommt, schaut er hinaus aufs Meer. Es erscheint ihm schon lange nicht mehr fremd, sondern so, als hätte es nie ein anderes gegeben. Regen und Wind setzen ihm zu, diesem Meer, sie wühlen es auf und machen es wild. Und weil es stürmt und weil es Nacht ist und weil Yanns Augen nicht besonders gut sind, traut er selbigen zunächst nicht. Erst nachdem er sie zusammengekniffen und weit aufgerissen hat, ist er sicher: Schwankend, von den Wellen hin und her geworfen, nähert sich ein Boot.
Yann springt auf, läuft in die Brandung, mit der Hand die Augen gegen den Regen schützend. Das Boot bleibt Boot. Der Regen ist zu stark, als dass Yann Milan erkennen könnte, niemand anderes aber kann in dem Boot sitzen.
Und Yann schwenkt die Arme. »Hier«, ruft er. »Hier bin ich.«
Ein Bellen lässt ihn herumfahren. Ohne zu rennen oder auch nur zu eilen, nähert der Tourist sich nun immer schneller und mit meilengroßen Schritten. Aus dem Meer hört Yann Milan rufen, ein Wort brüllt er gegen den Wind, den Regen, das Meer. Vielleicht: »Schwimm«, vielleicht: »Spring«. Und Yann folgt beiden Anweisungen: Er rennt in die Brandung, springt in die Fluten, lässt sich halb fallen und versucht zu schwimmen. Die Kälte lässt ihn in der Bewegung erstarren. Er taucht unter, kommt hustend und Wasser spuckend wieder hoch. Unter Wasser hat er sich gedreht, und er sieht nicht mehr Milan im Boot, sondern den Touristen in der Brandung, hinter ihm Lichter, vermummte Gestalten, wahrscheinlich Carl, Ari und Helen. Er glaubt, seine Mutter rufen zu hören: »Stillhalten, Yann.« Aber Yann hält nicht still, genauso wenig wie das Meer, das ihn in die Höhe reißt und wieder nach unten zieht, das sich um ihn schlingen und ihn umarmen und ihn die Luft und das Licht und die Welt über Wasser vergessen lassen will. Drei, vier Meter von ihm entfernt schaukelt Milans Boot, und Yann hält mit schnellen Zügen darauf zu. Ein besonders guter Schwimmer ist er nie gewesen, doch jetzt fühlt er sich angetrieben, hingezogen zu Milan. Er holt aus, einmal, zweimal, dreimal und mit dem vierten Zug erreicht er das Boot.
Milan, der zum Bug geklettert ist, lehnt sich über den Rand, greift nach Yann und bekommt ihn zu fassen. Yann lässt sich aus dem Wasser ziehen. Er hievt sich über den Rand des Bootes und schlägt dumpf auf dem
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