Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Augen, unkoordinierte Bewegungen und fahle Haut sind sicher Symptome.
Bald bemerkt Jasper, dass sich niemand hier in die Augen schaut. Die Reisenden starren die Wände an, den Boden und die Decke. Es ist, als könnten sie das Schiff nicht sehen und auch nicht die, die mit ihnen reisen. Beinahe fällt Jasper über einen Mann, der auf einem ausgeblichenen Teppich sitzt und die verwaschenen Ornamente darauf so eindringlich mustert, als gäben sie ihm ein Rätsel auf. Der Mann hat den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er einem schwer verständlichen Bericht. Auch Jasper horcht in den Raum, lauert auf das kleinste Geräusch, bis ihm die Stille in den Ohren schmerzt, sie ist ein lautes Summen, sie ist ein schwerer Stoff. Sogar in ihren Bewegungen sind die Passagiere lautlos, keine Schritte und kein Schlurfen kündigen sie an, ihre Füße berühren nicht den Boden. Ihre Kleidung raschelt nicht, niemand hüstelt, spricht oder flüstert. Den nächsten menschlichen Schatten packt Jasper bei den Schultern und fragt ihn, wo genau sie sich befinden, wohin die Reise geht.
Wieder erhält er keine Antwort.
Er läuft weiter. Schnell hat er die Orientierung verloren, scheint es doch, als bestünde die Evicon 23 aus nichts als endlosen Gängen und geschlossenen Türen. Er erreicht ein weiteres Treppenhaus und entdeckt einen Schiffsplan. Die Zeichnung darauf ist kaum noch zu erkennen; mit dem Finger fährt er über verblichenes Papier, aufgerollte Ecken und eingerissene Ränder. Nun bemerkt er überall Zeichen des Verfalls. Der Teppich, auf dem er steht, ist fleckig und alt. In den Ecken liegen tote Ratten und Insekten. Keine Bilder unterbrechen das triste Grau der Wände. Als er an eines der Bullaugenfenster herantritt, sieht er, dass das Glas mit Schlieren, einer klebrigen, gelb-bräunlichen Schicht überzogen ist.
Er läuft weiter, durch Gänge und Gänge und Gänge. Es scheint kein Bordrestaurant zu geben, kein Kino, keinen Shop, in dem er Parfum oder Wein erstehen könnte, keine Bar, kein Café, keine Spielhalle. Es gibt bloß geschlossene Türen und Treppen und Bänke und Stühle und Sessel. Dort stehen und sitzen die Passagiere, denen der Mangel an Unterhaltungsmöglichkeiten nicht weiter aufzufallen scheint. Sie lassen ihre Gedanken wandern.
So fern, wie ihr es seid, ist noch nie jemand seinem Zuhause gewesen. Und an diesem Ort streckt ihr eure Fühler aus, tastet euch an die Menschen heran, die ihr liebtet und von denen ihr einmal geliebt wurdet. Ihr malt euch aus, was die Zuhausegebliebenen tun, wie sie sprechen und lachen und manchmal weinen, wenn sie an euch zurückdenken. Auch ihr erinnert euch, zumindest ungefähr und in etwa: an alles, was verpasst, was versäumt und vergessen wurde. An alles, was zu viel oder zu wenig gesagt wurde. Ihr wollt es zurücknehmen, es nachreichen und verliert euch im Bedauern, im Vergessen, im Erinnern. Und hier geht ihr verloren: auf der letzten Reise, auf einem stillen Schiff, auf einem langen Fluss.
*
Etwas liegt in der Luft an Bord der Evicon 23 . Es macht das Sehen und das Denken schwer. Jasper tastet sich an der Wand entlang, blinzelt, hustet und bleibt einen Augenblick stehen. Obwohl der Gang frei von Nebel und Dunst ist, beginnt Jaspers Sichtfeld zu schwimmen, seine klaren Grenzen und Kanten zu verlieren. Der Nebel muss ihm unmittelbar im Kopf aufgezogen sein. Wie um sich den Dunstfilm von den Augen zu wischen, presst er die Hände vors Gesicht. Als er sie sinken lässt, sieht er eine Gestalt, nur wenige Meter entfernt. Mit unsicheren Schritten, die Arme von sich gestreckt, läuft er auf sie zu. Die Frau – er glaubt, dass es eine Frau ist – lehnt an der Wand, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet.
»Können Sie mir helfen?«, fragt er.
Sie bewegt die Lippen, aber als Jasper näher kommt und sie bittet, lauter zu sprechen, verstummt sie.
»Entschuldigung«, versucht er es ein weiteres Mal. »Ich suche jemanden. Mare. Sind Sie so jemandem be-«
Kaum, dass er den Namen ausgesprochen hat, geht ein Ruck durch das Schiff, es hält inne, genau wie die Frau vor ihm. Stirnrunzelnd betrachtet sie den Boden, bevor sie den Kopf hebt, und für den Moment sieht sie nicht an ihm vorbei, nicht durch ihn hindurch, für den Moment sieht sie ihn tatsächlich. Dann wandert ihr Blick über seine Schulter und den Gang hinunter, wo er sich verfängt, strauchelt und den Halt verliert. Innerhalb weniger Sekunden frisst sich der Schrecken durch ihre Züge, werden ihre Augen glasig,
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